Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achter Jahrgang. 1892. (33)

Das Dentsche Reihh und seine einzelnen Glieder. (Januar 30.) 65 
hat, das war, daß unsere Haltung in konfessionellen Fragen unbedingt 
dazu führen müsse, dem Atheismus Vorschub zu leisten; und das ist doch 
auch schon ein Vorwurf, der etwas Kränkendes und Verletzendes in sich hat. 
Wenn wir die Ueberzeugung hätten, daß wir mit unserer Stellung dem 
Atheismus Vorschub leisteten, dann wären unsere Interessen und An— 
schauungen identisch mit denen der anderen Parteien auf jener Seite. 
Der Herr Ministerpräsident hat dann gesagt, wir hätten tadelnd 
hervorgehoben, die Regierung hätte nicht die nötige Voraussicht bewiesen, 
indem sie ein solches Gesetz einbringe. Ich weiß nicht, ob dieser Tadel 
ausdrücklich ausgesprochen worden ist, aber innerhalb eines gewissen be- 
schränkten Rahmens scheint er mir allerdings nicht ganz ungerechtfertigt zu 
sein. Wir waren bisher in der glücklichen Lage, mit der Königlichen 
Staatsregierung auf den verschiedensten Gebieten gemeinsam wirken zu 
können, weil die Fragen, die in Angriff genommen wurden, solche waren, 
bei denen bei allen Parteien dieses Hohen Hauses ein gemeinsamer Boden 
vorhanden war. Ich erinnere an die Arbeiterschutzgesetzgebung, wo alle 
Parteien, ohne Ausnahme, mit allen ihren Kräften gearbeitet haben. ich 
eriunere an die Steuerreform, ich erinnere an die Landgemeindeordnung, ich 
erinnere an die Handelsverträge. Das alles waren Gebiete, auf denen alle 
Parteien friedlich zusammen arbeiten konnten; und eine Regierung, die es 
zu ihrem Programm gemacht, alle erhaltenden Kräfte um sich zu scharen, 
sollte auch ihre ganze Kraft auf derartige Aufgaben verwenden. Sie sollte 
aber andererseits so viel Voraussicht haben, in dieser schweren Zeit nicht 
Streitpunkte in die Parteien hineinzuwerfen, die dazu führen müssen, daß 
wir schließlich sehr weit auseinanderkommen. 
Der Goßler'sche Entwurf war ein solcher, daß er die Streitpunkte 
möglichst vermied, der jetzige Entwurf ist kein solcher. Darin liegt das 
unterscheidende Merkmal zwischen diesen beiden Entwürfen, wenn wir sie 
lediglich von ihrer politischen Seite betrachten. 
Der Herr Ministerpräsident hat gestern eine Ausführung gemacht, 
die in der That geeignet war, uns, wenn ich mich so ausdrücken darf, 
etwas kopfschen zu machen. Der Herr Ministerpräsident hat auch heute 
dasselbe wiederholt und hat gesagt, wir sträubten uns dagegen, majorisiert 
zu werden. Daß wir das nicht im staatsrechtlichen Sinne auffassen, ist 
ganz selbstverständlich. Wenn die Majorität dieses Hohen Hauses und des 
anderen Hauses gegen uns entscheidet, so müssen wir uns als Staatsbürger 
selbstverständlich fügen; die Sache ist staatsrechtlich abgeschlossen. Was wir 
unter Majorisierung verstanden haben, ist das: wenn man uns bei einer 
so großen politischen Aktion, wie die Emanierung des Volksschulgesetzes 
ist, durch eine schroffe Stellungnahme von vornherein vollkommen aus- 
schließt, dann kommt allerdings ein Gesetz zu stande, bei dem wir politisch 
majorisiert sind; und daß uns eine derartige politische Majorisierung trennen 
muß, liegt auf der Hand. 
Der Herr Ministerpräsident hat uns gestern mit dürren Worten — 
er hat es heute nicht in dieser Form wiederholt — gesagt: wir haben so 
und so oft mit Euch die Majorität gehabt, jetzt haben wir sie mit anderen, 
und wenn wir die Moajorität mit anderen einmal nicht wieder haben, dann 
ist es wohl möglich, daß wir wieder einmal mit Euch zusammengehen. Ich 
frage den Herrn Ministerpräsidenten, ob eine große Partei des Landes 
auf eine derartige Stellungnahme der Königlichen Staatsregierung ein- 
gehen kann! 
Bei einem solchen Verfahren, die Majorität bald da, bald dort zu 
nehmen, wirtschaftet man entweder die Parteien ab, oder man wirtschaftet 
sich selbst ab. Und deshalb glaube ich, der Herr Ministerpräsident und die 
Europ. Geschichtskalender. Bd. XXXIII. 5 
 
	        
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