Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 14.)105 
wir hatten das alles als Dinge von hohem Werte, von großem Ernste be- 
handelt, und es war uns von unseren Gegnern nicht einmal, sondern wieder- 
holt vorgehalten worden, daß die Landwirtschaft durch die Handelsverträge 
ruiniert werden würde. Um was handelte es sich damals? Um 15 Mark 
Zoll für die Tonne Getreide. Da tritt plötzlich ein Antrag auf, der erklärt: 
Uns kann nur noch dann geholfen werden, wenn wir nun — lassen Sie 
es für eine Getreideart 70 und für die andere Getreideart 50 M sein — 
immerhin Summen, gegen die die 15 M. für die Tonne verschwindend waren 
mehr erhalten. Es war fast wie eine günstige Kritik für den Handelsver- 
trag, daß man alle die Summen, um die man damals gestritten hatte, 
plötzlich fallen ließ; dann konnte doch die Regierung die Landwirtschaft 
nicht so schwer geschädigt haben, wie es angegeben wurde, wenn nur mit 
Summen, die das Vier-, Fünffache betrugen, der Landwirtschaft noch zu 
helfen ist. (Sehr gut!) Gewiß, Herr Graf Kanitz hat den Antrag lange 
in seinem Gemüt getragen, er hat ihn auch damals getragen, als er im 
Abgeordnetenhaus dafür plaidierte, daß man die Kornzölle fallen lassen 
sollte, weil die Kornpreise für die Brotesser zu hoch geworden wären. Ich 
habe nicht erwartet, daß derselbe Herr nun mit einem solchen Antrage 
kommen würde. Der Antrag kam mir plötzlich, er überraschte mich, und 
er überraschte mich um so mehr, als wir noch vor nicht langer Zeit aus 
Zurufen der konservativen Partei zu schließen berechtigt waren, daß sie auf 
einen Minimalpreis des Getreides nicht zu kommen gedachten. In der 
Sitzung vom 23. November v. J. sprach der Herr Staatssekretär Freiherr 
v. Marschall davon, daß er irgend einen fruchtbaren Keim für die Förde- 
rung landwirtschaftlicher Interessen in der aus landwirtschaftlichen Kreisen 
hervorgegangenen Agitation nicht zu erblicken vermöchte, und fuhr dann 
fort: Wenn es gelänge, in weiteren Kreisen der landwirtschaftlichen Be- 
völkerung der Ueberzeugung Raum zu verschaffen, daß es in der Hand der 
Regierung liegt, den landwirtschaftlichen Produkten einen gewissen Mini- 
malpreis zu garantieren. — (Der stenographische Bericht notiert: „Wider- 
spruch rechts.“) Herr v. Marschall fährt fort: Das ist verlangt worden 
und wird heute vielfach verlangt; ich sage nicht, daß Sie das anstreben, 
aber die Wirkung der Agitation ist es zweifellos. (Wiederum: „Wider- 
spruch rechts.“) (Heiterkeit.) Herr v. Marschall fährt fort: Ja, meine 
Herren, Sie werden doch nicht in Abrede stellen wollen, daß heute im Lande 
eine große Agitation im Gange ist, welche der Regierung zumutet, dafür 
zu sorgen, daß die Preise der landwirtschaftlichen Produkte nicht unter eine 
gewisse Minimalgrenze sinken. „Widerspruch rechts.“" (Große Heiterkeit.) 
Meine Herren, ich nehme dankbar davon Notiz, daß diese Bestrebungen in 
diesem hohen Hause keine Unterstützung finden; — fährt Herr v. Marschall 
fort — aber es bleibt doch richtig, was ich sage, daß draußen eine Agita- 
tion in diesem Sinne im Gange ist. Zum vierten Male „Widerspruch 
rechts.“ (Erneute große Heiterkeit.) Nun wird mir zugerufen: Das sind 
anonyme Aeußerungen. Ja, wir sind gewöhnt, wenn wir vom Regierungs- 
tische sprechen, von Zwischenrufen und mehr oder weniger anonymen Aeuße- 
rungen begleitet zu werden; bisweilen ist es, wie wenn wir mit Brumm- 
stimmen begleitet würden. (Heiterkeit.) Sie können es uns nicht verdenken, 
daß diese störenden Aeußerungen doch auf uns einen Eindruck machen; wir 
kennen ja auch die Stimmen, und wenn wir viermal hintereinander bei 
einer solchen Frage Widerspruch erfahren haben, so würden wir den Wert 
dieser Herren unterschätzen, wenn wir ihren Widerspruch unbemerkt ließen. 
(Heiterkeit.) Es kam also für mich im hohen Maße überraschend, daß, nach- 
dem hier Ende November entschieden in Abrede gestellt war, daß man 
die Fixierung von Minimalpreisen fordere, jetzt im April der Minimal-
	        
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