Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 20.) 113 
Auf eine Ansprache des Abg. Dr. Hasse antwortete Fürst Bismarck: 
„Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre freundlichen Worte und 
Ihnen allen, meine Herren, danke ich für die hohe Ehre, die Sie mir er- 
zeigen, indem Sie mir durch Ihren Besuch hier in Friedrichsruh bekunden, 
daß die Reichsverfassung und meine Mitarbeit an derselben Sie noch heute 
befriedigt und Sie mir wegen dieser Mitarbeit Ihre Anerkennung zollen. 
Es hieß früher, daß die Verfassung mir persönlich auf den Leib geschnitten 
sei, und daß ich, wie jener Danziger Uhrmacher, der Einzige sei, der die 
Uhr im Gange halten könne. Wie unrichtig diese Anschauung ist, beweist 
die Thatsache, daß auch Graf Caprivi unter zu Zeiten schwierigen Um- 
ständen nun doch seit 4 Jahren mit dieser Verfassung regiert hat, ohne 
das Bedürfnis einer Aenderung zu empfinden und ohne in der Verfassung 
einen Hemmschuh nationaler Thätigkeit zu erblicken, wie dies früher zur 
Zeit des alten Bundestages der Fall gewesen ist. Ich zweifle nicht daran, 
daß diese Verfassung, welche sich anknüpft an historisch Gewordenes, oder 
wie der Geologe sagt, an „gewachsenen Boden“, ihre Proben auch ferner 
bestehen wird, so ernsthaft sie auch sein mögen. 
Es liegen manche schwere Aufgaben für die nächsten Reichstage vor. 
Ich nenne in erster Linie die Deckung des finanziellen Ausfalles unter 
Schonung des guten Einvernehmens der verschiedenen Klassen der Kontri- 
bualen, welche bei der Finanzreform zur Deckung des Ausfalls herbeigezogen 
werden können, der durch den Verzicht auf erhebliche Beträge der Zölle 
nötig geworden ist. In zweiter Linie die Notlage der Landwirtschaft, die 
doch einen zu erheblichen Anteil unserer Landsleute betrifft, um von Reichs- 
wegen ignoriert werden zu können. Die Annahme, daß die Landwirtschaft 
die Reichsgesetzgebung nichts anginge, weil sie unter Artikel 4 der Ver- 
fassung nicht aufgeführt sei, zeigt ja doch einen Mangel an Vertrautheit 
mit unserem Verfassungsleben, mit den Absichten der Gesetzgeber, mit unserem 
ganzen wirtschaftlichen Leben, wie ich ihn kaum für glaublich hielt, und 
wie ich ihn nicht an so hoher Stelle gesucht hätte. In jenem Artikel der 
Verfassung ist auch kein anderes Gewerbe genannt und man könnte mit 
demselben Recht sagen, alle Handwerker, seien es Schuhmacher, Schmiede 
oder sonst irgendwelche, gingen das Reich und seine wirtschaftliche Gesetz- 
gebung nichts an. Aber der Reichsgesetzgebung können unmöglich die Ge- 
schicke von 20 Millionen Reichsbürgern, die Landwirtschaft betreiben, gleich- 
giltig sein. Mag die Landwirtschaft nicht ausdrücklich und formell als 
zur Kompetenz des Reiches gehörig bezeichnet sein, sie gehört eben zur wirt- 
schaftlichen Pflege der Gesetzgebung. 
Wir haben eine weitere schwierige Aufgabe zu lösen auf dem Gebiete 
der Beziehungen der geordneten staatlichen Gesellschaft zur Sozialdemokratie. 
Ich glaube nicht, daß diese Frage auf die Dauer einfach totgeschwiegen 
werden kann, sondern daß man ihr früher oder später aktiv näher treten 
muß. Auf welche Weise, darauf will ich heute nicht weiter eingehen. Wir 
haben ferner speziell bei uns in Preußen neuerdings die polnische Frage 
wieder beleben sehen, die in ihrer Ausdehnung auf Oberschlesien, wo die- 
selbe früher nicht bekannt gewesen, schädlicher wird als sie war, für die 
mühsam errungene Einigkeit der Bevölkerung und für ein günstiges Ver- 
hältnis zu unsern polnisch sprechenden Landsleuten. Man hat die polnische 
Begehrlichkeit neu aufgemuntert und das ist ein bedenkliches Experiment, 
zumal in der polnischen Frage eine europäische Frage über Krieg und 
Frieden liegt. 
Ich glaube ja nicht, daß letztere sehr nahe bevorsteht. Es ist weniger 
die friedliche Gesinnung aller Regierungen, die den Frieden bisher erhält, 
als die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit der Chemiker in der Erfindung 
Europ. Geschichtskalender. Bd. XXXV. 8
	        
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