Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 21.) 115 
ist er dann nichts anderes als ein Verwaltungsbeamter des Reichspräsidiums. 
Setzen wir den Namen einmal für den des Kaisers, wie er es ja ursprüng- 
lich war. Das ist meines Erachtens das nächste Bedürfnis der Zukunft, 
was wir politisch zu erstreben haben, daß diese unnatürliche Trennung 
zwischen dem Reichskanzleramte und dem preußischen Ministerpräsidium 
aufhöre, und daß der Reichskanzler in der Lage bleibe, das solide Funda- 
ment des preußischen Staates hinter sich zu haben; dadurch kann seine 
Autorität im Reiche und im Auslande nur wachsen. Wenn die übrigen 
Bundesgenossen Preußen das Präsidium übertragen haben, so geschah das 
nicht nur, um einen von Preußen ernannten Reichskanzler zu schaffen, 
sondern im Vertrauen zu der Tüchtigkeit des preußischen Staates in Civil 
und Militär. Wenn aber dieses hinter ihm wegfällt, so ist der Reichs- 
kanzler nichts als ein Luftgebilde. Das Gewicht der Reichsvertretung, wie 
sie der Reichskanzler führen soll, kann sich nur abschwächen, wenn die Auto- 
rität von 10 preußischen Staatsministern mit vielleicht 500 geschulten Be- 
amten und Ministerialräten hinter ihm fortfällt und der Kanzler einher- 
tritt auf der eigenen Spur als freier Sohn der eigenen Natur, auf Wegen, 
die Niemand kontrolliert, als er selbst. Er kann nach seiner Vergangenheit 
die Erfahrung nicht besitzen, welche die Erfahrung der 10 Minister mit 
ihrer Gefolgschaft von Räten aufwiegt. Diese sind der Ballast in unserem 
Reichsschiffe, und wenn die wegfielen, so wäre es ein Gewinn, wenn der 
Ausfall der preußischen Unterlage durch ein baierisches oder sächsisches Mini- 
sterium hinter ihm ersetzt würde. Daran ist ja kein Gedanke. Sein Schiff 
fährt isoliert, ohne an einen staatlichen Kurs gebunden zu sein. 
Ich fürchte, meine Herren, daß ich weitschweifig wurde und Sie 
haben mir Ihre Zeit nur sehr kurz bemessen. Ich habe mich aber lange 
nicht politisch ausgesprochen. Es wird Zeit, daß ich Sie noch meiner Frau 
vorstellen kann, und Sie sich noch durch einen Trunk und kleinen Imbiß 
stärken können.“ („Hamb. Nachr.“) 
21. April. Der Kaiser nach Eisenach. 
21. April. (Preuß. Abgeordnetenhaus. Kanalvorlage.) 
Die Staatsregierung soll ermächtigt werden zur Ausführung eines 
Schiffahrtskanals vom Dortmund-Ems-Kanal bis zum Rhein in der Gegend 
von Ruhrort und Duisburg mit Anschlußkanälen in der Richtung auf 
Bochum, Essen, Mülheim an der Ruhr und Ruhrort (Dortmund-Rhein- 
Kanal) und eines Schiffahrtskanals von Hamm an der Lippe bis zum 
Dortmund-Ems-Kanal in der Richtung auf Datteln (Kanal Hamm-Datteln) 
den Betrag von 55,650,000 M. nach Maßgabe der von dem Minister der 
öffentlichen Arbeiten festzustellenden Pläne zu verwenden. 
Mit dem Bau dieser Wasserstraßen ist jedoch erst dann vorzugehen, 
nachdem die Rheinprovinz und die Provinz Westfalen oder andere öffent- 
liche Verbände der Staatsregierung gegenüber in rechtsverbindlicher Form 
gewisse Verpflichtungen übernommen haben. 
Min. Thielen: Der Provinziallandtag von Westfalen habe der 
Vorlage zugestimmt, die Verhandlungen mit demjenigen der Rheinprovinz 
schwebten noch, doch sei an einer Zustimmung von dieser Seite nicht zu 
zweifeln. Zweck der Vorlage sei: einmal das niederrheinische Industrie- 
gebiet mit dem Rhein und den östlichen Flußläufen zu verbinden, dann 
aber solle der geplante Kanal überhaupt ein Glied in der Kette von Wasser- 
straßen bilden, die den Osten mit dem Westen des Staats zu verbinden 
bestimmt ist. Der niederrheinischen Industrie erwüchsen aus den hohen 
Betriebs- und Transportkosten große Schwierigkeiten. Das Bedürfnis des 
Kanalbaus sei außer Frage. Was die finanzielle Seite des Unternehmens 
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