Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Oktober 26.) 167 
26. Oktober. (Berlin.) Der Reichskanzler hebt das seit 
1889 bestehende Verbot der Lombardierung russischer Werte auf. 
26. Oktober. (Berlin.) Bittgottesdienst in der Kapelle der 
russischen Gesandtschaft für die Genesung des Zaren, an dem der 
Kaiser und der Reichskanzler teilnehmen. 
26. Oktober. Reichstagsersatzwahl in Stendal. 
Amtsrichter Himburg (dkons.) wird mit 8234 Stimmen gewählt gegen 
Handelskammersekretär Fischbeck (frf. Volksp. 4630 St.) und Schneider 
Hinze (Soz. 2159 St.). 
26. Oktober. Der Kaiser genehmigt das Entlassungs- 
gesuch des Reichskanzlers Grafen Caprivi und des preu- 
ßischen Ministerpräsidenten Grafen Eulenburg. 
Das Ereignis ruft allgemeine Ueberraschung und die verschiedensten 
Erklärungsversuche hervor. Nach der „Kreuz-Ztg.“ verlief die Krisis fol- 
gendermaßen: „Die Frage der gegen die „Umsturzparteien“ zu ergreifenden 
Maßregeln hat nur in zweiter Linie dazu beigetragen, die Entscheidung 
herbeizuführen. War auch ein volles Einvernehmen nicht erreicht, so lag 
doch die Möglichkeit vor, es anzubahnen, und als Graf Caprivi am Dienstag 
(24. Okt.) die noch schwebenden Differenzen für bedeutsam genug hielt, um 
sein Entlassungsgesuch einzureichen, hat der Kaiser in einer darauffolgenden 
Audienz jenes Gesuch in einer für den Reichskanzler keineswegs ungnädigen 
Weise abgelehnt und ihn veranlaßt, von dieser Thatsache dem Grafen zu 
Eulenburg Mitteilung zu machen. Erst danach erfolgte das Entlassungs- 
gesuch des Grafen Eulenburg, so daß der Reichskanzler siegreich den Platz 
zu behaupten schien. Es ist erinnerlich, mit welchem Lärm der offiziöse 
Draht und die offiziöse Presse von dem Besuche Notiz nahmen, den der 
Kaiser dem Reichskanzler am Dienstag machte, und wie, namentlich von 
der „Köln. Ztg.“ und von der „Nordd. Allg. Ztg.“, betont wurde, daß 
der Kaiser „hinter dem Kanzler stehe“. Es war eine Identifizierung von 
Kanzler und Kaiser, wie sie stärker nicht möglich war. Wie nun aus bester 
Quelle verlautet, ist der Kaiser von dieser Deutung seiner Absichten keines- 
wegs erbaut gewesen, und die Hartnäckigkeit, mit der Graf Caprivi darauf 
bestand, für seine Presse einzustehen, ist in Zusammenhang damit zu bringen, 
daß einem zweiten Abschiedsgesuch die Genehmigung nicht versagt wurde." 
Sehr viel Anklang findet auch folgende Darstellung der „Berliner 
Neuesten Nachrichten“: „Graf Caprivi hatte am Dienstag Morgen sein Ent- 
lassungsgesuch eingereicht. Infolgedessen hatte sich der Kaiser vor seiner 
Abreise nach Liebenberg zum Kanzler begeben und ihm den Rat erteilt, 
auf seinem Platze zu bleiben. Im Laufe der Aussprache ergab es sich, daß 
in den Anschauungen des Kaisers und des Kanzlers über die Stellung zur 
Umsturzbewegung nur sehr geringfügige Abweichungen bestanden. Der Kaiser 
sprach auch die Hoffnung aus, daß zwischen der Auffassung des Kanzlers 
und der des Ministerpräsidenten eine Brücke sich werde bauen lassen. In 
dem Glauben, daß die Krisis beigelegt sei, reiste der Kaiser nach Lieben- 
berg. Inzwischen wurde der gesamte offiziöse Preßapparat zur Unterstützung 
des Kanzlers in Szene gesetzt. Während der Kaiser in Liebenberg ver- 
weilte, wurde ihm das Entlassungsgesuch des Grafen Eulenburg unter- 
breitet. Dasselbe war ausdrücklich durch die Preßangriffe in der „Köln. 
Ztg.“ und ähnlichen Blättern begründet worden. Dem Kaiser sind, wie 
wir bestimmt wissen, zur Charakterisierung dieser Preßpolitik verschiedene 
 
	        
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