Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 11.) 187
bunden gewesen wäre. Das ist nicht der Fall und konnte um so weniger
der Fall sein, als die meisten Gesetzentwürfe, die Ihnen vorgelegt werden,
schon zur Zeit meines Herrn Amtsvorgängers beschlossen oder vorbereitet
waren. Damit will ich nicht sagen, daß ich in allen Punkten die Wege
meines Vorgängers gehen werde. (Bravol rechts.) Aber das muß ich her-
vorheben, daß ich die vollendeten Thatsachen zu respektieren habe und daß
ich die vertragsmäßig eingegangenen Verpflichtungen loyal ausführen werde.
Ich berühre nun zunächst die Finanzfrage. Der Etat wird von sach-
kundiger Seite durch den Herrn Staatssekretär des Schatzamts erläutert
werden. Ich kann mich daher für jetzt darauf beschränken, auf einen Punkt,
der mir im Interesse des Reichs der wichtigste scheint, hinzuweisen. Es ist
das Verhältnis des Reichs zu den Einzelstaaten in finanzieller Beziehung.
(Sehr richtig! rechts.) Eine Abhilfe scheint mir hier dringend geboten.
(Sehr wahr! rechts.) In der That bietet auch der vorliegende Abschluß
des Etatsentwurfs noch das Bild des Zufalls, wie es sich für die leistungs-
verpflichteten Bundesstaaten alljährlich aus dem Verhältnis der Matrikular-
beiträge zu den Ueberweisungen ergibt. Die Beibehaltung dieser in der
Verfassung als ein vorübergehender Notbehelf gedachten Einrichtung birgt
sowohl für die innere politische Festigkeit des Reiches wie für die haus-
hälterische Ordnung der Bundesstaaten die schwersten Gefahren in sich. Das
Reich hat zwar ein Defizit nicht zu fürchten, weil es in der Lage ist, für
seine steigenden, durch eigene Einnahmen nicht gedeckten Bedürfnisse stets
die Steuerkraft der Einzelstaaten in Anspruch zu nehmen. Diese finanzielle
Haftbarkeit der Einzelstaaten erscheint aber geeignet, im Reiche das Gefühl
der Verantwortlichkeit für die Beschaffung von Deckungsmitteln zu min-
dern und läßt eine formale Grenze, wie solche im Einzelstaate gegenüber
den wachsenden Forderungen der Ressorts gegeben ist, vermissen. Noch
schwerer, wie die Höhe der Leistung, drückt die in dem schwankenden Ver-
hältnisse zwischen Ueberweisungen und Matrikularbeiträgen liegende Unsicher-
heit auf die Finanzpolitik der einzelnen Bundesstaaten, welche trotz aller
Pläne und Voraussichten von der wechselnden Gestaltung der Reichsfinanzen
abhängt. Eine Finanzreform, welche dieses bedenkliche finanzielle Abhängig-
keitsverhältnis beseitigt, ohne die föderative Interessengemeinschaft zu lockern,
ist für das Reich eine politische, für die Bundesstaaten eine staatswirtschaft-
liche Notwendigkeit. (Sehr wahr! rechts.) Es muß hiernach daran fest-
gehalten werden, jenes Ziel auf der allgemeinen Grundlage des vorjährigen
Entwurfs, wenn auch in wesentlich beschränktem Umfange, zu erreichen.
Im Zusammenhang mit der Gestaltung unserer Finanzen steht die
Kolonialfrage. Als jüngste Macht ist das Deutsche Reich in eine Kolonial-
politik eingetreten. Die Beweggründe, welche das Reich dazu geführt haben,
sind wirtschaftlicher, nationaler und religiöser Natur. Schon vor der Be-
gründung des Reichs haben einsichtige Männer darauf hingewiesen, daß
Deutschland, um sich den Wettbewerb auf dem Weltmarkt zu sichern und
damit auch seine internationale Machtstellung zu bewahren, darauf bedacht
sein müsse, sich neue und unabhängige überseeische Absatzgebiete zu schaffen
und den überschießenden Kräften der Heimat, statt sie sich zu entfremden,
einen neuen Raum zur Entfaltung zu gewähren. Die bisherige Entwicke-
lung in dem kurzen Zeitraum von 10 Jahren hat bewiesen — und die
dem Reichstag vorgelegten Denkschriften legten davon Zeugnis ab —, daß
diese Auffassung zutrifft. Der Handel in unseren Kolonien nimmt, wenn
auch nur allmählich, zu; die Plantagen, wenn auch unter schwerer Arbeit
und Opfern, gewinnen an Ausdehnung, und große Gebiete sind geeignet,
deutschen Auswanderern eine Existenz zu gewähren. (Sehr richtig! rechts.)
Die koloniale Bewegung ist aber auch eine nationale. Sie ist dem erstarkten