188 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 11.)
Nationalgefühl entsprungen, welches nach Gründung des Reichs ein Feld
der Thätigkeit für das gekräftigte nationale Empfinden sucht; sie ist eine
wertvolle Stärkung des Einheitsgedankens und keine Regierung wird dieses
neue und feste, die einzelnen Stämme der Nation und die verschiedenen
Schichten der Bevölkerung umschließende Band entbehren können und wollen.
(Bravo! von mehreren Seiten.) Die deutsche Kolonialpolitik hat aber auch
eine ideale und religiöse Grundlage. Es wäre eine Minderung des deutschen
Namens in der Welt, wenn nicht auch das deutsche Volk teilnehmen wollte
an der Kulturmission, welche die letzten Greuel der Sklaverei beseitigt und
das Licht des Christentums in den dunklen Weltteil hineinträgt. (Bravol)
Diese verschiedenen Beweggründe traten zu Anfang vereinzelt auf; sie treffen
mehr und mehr zusammen und die verbündeten Regierungen sind entschlossen,
jede dieser Richtungen gleichmäßig zu fördern. (Bravol) Die Aufrecht-
erhaltung unseres Kolonialbesitzes ist ein Gebot unserer nationalen Ehre
und ein Zeichen unseres nationalen Ansehens. Wir werden ihn zu ver-
teidigen wissen. (Lebhaftes Bravo.) Wir werden ihn aber so gestalten müssen,
daß er wirtschaftliche Selbständigkeit erlangt, von den Nachbargebieten nicht
überflügelt wird, und daß die Zukunft der deutschen Kolonialpolitik nicht
beeinträchtigt wird. (Bravo! auf allen Seiten.) Zur Erlangung dieses
Zieles bedarf die Regierung der Unterstützung aller Kräfte der Nation.
Sie wird am wenigsten auf die Unterstützung der christlichen Missions-
gesellschaften verzichten (Bravo! rechts und in der Mitte), ohne deren opfer-
freudige und segensreiche Thätigkeit das gesamte Kolonialwerk in Frage
gestellt würe. Die Regierung wird ihrerseits die Missionen auf alle Weise
fördern und ihnen die volle Freiheit in der Ausübung ihres Berufes in
allen Schutzgebieten gestatten. (Bravol) Wie dies bereits schon einmal an
dieser Stelle hervorgehoben worden ist, wird die durch die Kongoakte ge-
währte Kultusfreiheit auch in denjenigen Gebieten beobachtet werden, auf
welche sie formell keine Anwendung findet. (Bravol) Bei Beobachtung
dieser Grundsätze hoffen die verbündeten Regierungen, die thätigen Anhänger
der Kolonialpolitik zu neuem Eifer zu ermuntern und die Schutzgebiete dem
allgemeinen Besten nutzbar zu machen, ohne durch übertriebene Maßnahmen
andere wichtige Interessen des Reichs bloßzustellen.
Die von Jahr zu Jahr glücklicherweise sich steigernden Handels-
beziehungen über See legen der Regierung die erhöhte Pflicht auf, den
deutschen Unternehmern mit ihrem Schutz zu folgen. In wirksamer Weise
wird er nur von unseren Kriegsschiffen geleistet werden können, und die
Anwesenheit deutscher Geschwader in den chilenischen, brasilianischen und
chinesischen Gewässern hat Leben und Eigentum der Reichsangehörigen vor
Unglück bewahrt. Es hat sich aber gerade im letzten Jahre gezeigt, daß,
wenn an verschiedenen Teilen der Erde kriegerische oder sonstige Unruhen
ausbrechen, unsere Kreuzer nicht ausreichen, um den bedrohten Landsleuten
die erbetene Hilfe zu leisten. Diese allseitig bekannt und fühlbar gewor-
denen Uebelstände legen uns die Pflicht auf, unsere Kriegsmarine derartig
zu vergrößern, daß sie mindestens im Stande ist, unseren überseeischen In-
teressen den Schutz zu gewähren, ohne welchen Unternehmungen des Han-
dels und Verkehrs überhaupt nicht bestehen können.
Es ist eine unbestrittene und beklagenswerte Thatsache, daß die Lage
der deutschen Landwirtschaft infolge des Wettbewerbs großer fruchtbarer
Länderstrecken und durch die in ungeahntem Umfang vermehrten Verkehrs-
wege im letzten Jahrzehnt eine sehr ungünstige geworden ist. (Sehr richtig!
rechts.) Zwar kann ich nicht anerkennen, daß Industrie und Landwirtschaft
im Gegensatz zu einander stehen. Ich muß aber zugeben, daß die geset-
geberischen Maßnahmen der letzten Jahre der Natur der Sache nach mehr