Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

196 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 15.) 
die Verfolgung Liebknechts für politisch bedenklich, weil sie fruchtlos bleiben 
werde, wenn der Reichstag die Immunität schützt, und weil Singer, der 
weit schlimmer gefehlt habe, straflos bleiben müsse. Die „Kreuz-Ztg.“ 
hält die rechtliche Möglichkeit einer Verfolgung Liebknechts für zweifellos; 
wenn der Reichstag die Genehmigung zur Einleitung des Strafverfahrens 
verweigere, habe die Staatsanwaltschaft das nobile officium, nach der Ses- 
sion gegen Liebknecht vorzugehen. Die „Nat.-Ztg.“ ist gegen die Geneh- 
migung des Strafantrags: „Man wird im Volke mit der Ablehnung des 
Antrags überwiegend einverstanden sein, wenn — aber auch nur dann! — 
gleichzeitig die Einleitung zu einer ausreichenden Verschärfung der Diszi- 
plinargewalt innerhalb des Reichstags getroffen und eine solche dann rasch 
bewirkt wird. Mehr als ausreichender Grund dazu war seit langen Jahren 
vorhanden; es braucht aus neuerer Zeit nur an die Ahlwardt-Skandale 
erinnert zu werden.“ Die „Germania“" schreibt: „Wahrlich, wenn nicht 
mit der Immunität der Reichstagemitglieder so große Interessen verknüpft 
wären, den sozialdemokratischen Schreiern und Demonstranten könnte man 
eine tüchtige Strafe schon gönnen. So aber muß die Immunität bis aufs 
Aeußerste gewahrt werden, zumal die Disziplinierung durch den Präsidenten, 
die Zurückweisung durch das gesamte Haus, die Verurteilung durch die 
öffentliche Meinung u. dgl. ja auch Strafe sind und für den Volksgeist, 
der so wieder einmal das wahre Wesen der Sozialdemokratie kennen lernt, 
sogar mehr Wirkung haben, als einige Monate Gefängnis.“ 
15. Dezember. (Reichstag.) Strafrechtliche Verfolgung Lieb- 
knechts. Verschärfung der Disziplinargewalt des Reichstags. 
Nach Schluß der Interpellation über die Zuckerfrage folgt der Be- 
richt über den Antrag auf Genehmigung der strafrechtlichen Verfolgung des 
Abg. Liebknecht wegen Majestätsbeleidigung. Die Kommission beantragt: 
„Die vom Staatsanwalt am Landgericht 1 Berlin beim Reichstage nach- 
gesuchte Genehmigung zur Einleitung des Strafverfahrens gegen den Reichs- 
tagsabgeordneten Liebknecht wegen Majestätsbeleidigung während der Dauer 
der gegenwärtigen Sitzungsperiode nicht zu erteilen.“ Eingegangen ist dazu 
folgende Resolution der Abgg. Adt (nat.-lib.) und Genossen: „Die Kom- 
mission für die Geschäftsordnung aufzufordern, unter dem Vorsitz des Prä- 
sidenten des Reichstags alsbald den Entwurf einer Abänderung und Ver- 
vollständigung der Geschäftsordnung auszuarbeiten und dem Reichstag zur 
Beschlußfassung vorzulegen, durch welchen die Disziplinargewalt des Reichs- 
tags und des Präsidenten gegen die Reichstagsmitglieder während der Aus- 
übung ihres Berufs in angemessener Weise verstärkt wird." 
Der Referent Abg. Pieschel berichtet über die Kommissionsverhand- 
lungen und teilt mit, daß man in der Kommission darüber einverstanden 
war, daß der Vorfall, um den es sich handelt, den Gepflogenheiten des 
Hauses widerstreite. Abg. Roeren (Z.): Die Genehmigung der Verfolgung 
müsse die Immunität des Hauses vernichten. Gegen eine Verschärfung der 
Geschäftsordnung habe das Zentrum nichts, aber im Anschluß an den vor- 
liegenden Fall könne es die Resolution Adt nicht annehmen, weil es den 
Anschein haben werde, als ob der Reichstag durch die Staatsanwaltschaft 
zu seinem Beschlusse veranlaßt worden sei. 
Reichskanzler Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst: Der Herr 
Vorredner hat mit Beredsamkeit das Recht der Immunität des Reichstags 
verteidigt; er hat Besorgnisse aus dem Antrag abgeleitet, denen ich ent- 
gegentreten muß. Wenn er z. B. gesagt hat, daß künftig nach einer Sitzung 
der Staatsanwalt aus den Aeußerungen, die hier in der Sitzung gefallen 
sind, einen Grund zur Anklage entnehmen könne, so möchte ich nur darauf
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.