Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

Erankreith. (November 13. — Dezember 3.) 271 
Nikolaus II. Es werden zahlreiche Beileids= und Dankestelegramme zwischen 
der französischen und russischen Regierung gewechselt. Kammer und Senat 
beschließen eine feierliche Kundgebung und heben zum Zeichen der Trauer 
die Sitzung auf. (5. Nov.) Am Beisetzungstage findet ein Trauergottes- 
dienst sung dem Cafimir Périer und die Minister beiwohnen. 
November. Gegen die Direktoren mehrerer Blätter werden 
Anklagen wegen Erpressung erhoben. 
13. November. (Deputiertenkammer.) Die Madagaskar- 
frage und das Ausland. 
In der Beantwortung einer Interpellation führt der Minister des 
Auswärtigen Hanotaux aus: Frankreich habe Madagaskar erst wertvoll 
gemacht und dort ein Handelszentrum geschaffen. Die bisherigen Resultate 
der Zivilisation ließen weitere Erfolge erhoffen. Bezüglich der auswärtigen 
Mächte sei Frankreich nach keiner Seite hin gebunden. Der Brüsseler Kon- 
greß im Jahre 1890 erkannte Frankreich das Recht zu, Maßregeln gegen 
die Einfuhr von Waffen anzuordnen. England habe das Protektorat Frank- 
reichs mit allen Konsequenzen anerkannt, sodaß Frankreich völlige Aktions- 
freiheit habe. 15,000 Mann würden zur Expedition hinreichend sein. 
26. November. (Deputiertenkammer.) Madagaskarfrage. 
Die Kammer genehmigt mit 377 gegen 143 Stimmen einen Kredit 
von 65 Mill. Frcs. zur Durchführung der Madagassischen Expedition. Es 
wird ferner bestimmt, daß zu der Expedition 8000 Mann der Kontinental- 
armee entnommen werden dürfen, nachdem der Kriegsminister erklärt hat, 
daß die Armee ohne Nachteil soviel entbehren könne. (Der Senat nimmt 
die Vorlage am 6. Dezember fast einstimmig an.) 
November. Dezember. Verhaftung des Hauptmanns Dreyfus. 
Angriffe auf die Botschaften. 
Am 1. Nov. wird der Artilleriehauptmann Dreyfus verhaftet, weil 
er verdächtig ist, fremden Militärbevollmächtigten geheime Aktenstücke mit- 
geteilt zu haben. In der Presse ruft die Nachricht allgemeine Erregung 
hervor, umsomehr, da die Regierung von der Untersuchung lange Zeit nichts 
bekannt gibt. Es beginnt eine heftige Preßfehde gegen die fremden ins- 
besondere die deutschen und italienischen Militärbevollmächtigten, die in 
deutschen Blättern auf den Kriegsminister Mercier zurückgeführt wird. 
Infolge der fortdauernden Angriffe auf die deutsche Botschaft protestiert 
der deutsche Botschafter Graf Münster dagegen und der Minister Hange 
taux verspricht Genugthuung. Eine offiziöse Note der „Agence Havas“ 
erklärt hierauf die Behauptung der Presse, daß fremde Botschaften in die 
Spionenaffäre verwickelt seien, für gänzlich unbegründet. Trotzdem kommt 
ein großer Teil der Presse noch bis zum Ende des Jahres auf diese An- 
gelegenheit zurück. 
3. Dezember. (Deputiertenkammer.) Budget. 
Das meiste Interesse erregt die geplante progressive Einkommen= und 
Erbschaftssteuer, die 25 Mill. Frcs. mehr ergeben soll. Dafür sind un- 
bedingt die Linke und der größte Teil der Opportunisten, dagegen die Rechte, 
als deren Wortführer Léon Say auftritt. Er bekämpft das Projekt als 
sozialistischer Natur und prophezeit der Regierung, die Unterstützung der 
Radikalen werde sie bis zum Sozialismus fortreißen. Finanzminister Poin= 
carr#é antwortet, daß Gesetz bedeute nicht die Nivellierung der Gesellschaft;
	        
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