Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

326 Nebersicht der pelitischen Eutwicheliunz des Jahres 1894. 
Die sechste Großmacht endlich, England, hat im wesentlichen 
seine bisherige politische Stellung beibehalten, und nur gegen Schluß 
des Jahres hat sich eine leise von der bisherigen auswärtigen 
Politik abweichende Strömung geltend gemacht. In früheren Jahr- 
gängen ist ausgeführt worden, daß England dem Dreibunde näher 
stehe als seinen Gegnern, und diese Anschauung war auch in Eng- 
land so verbreitet, daß ein von hervorragenden politischen und 
militärischen Schriftstellern verfaßtes Werk über den Zukunftskrieg 
(The great war of 189—. London, Heinemann, 1893) dem Insel- 
reiche den maßgebendsten Anteil am Kampfe gegen Rußland und 
Frankreich zuschreiben wollte. Dem gegenüber ist im verflossenen 
Jahre von der Presse und der Regierung wiederholt die Idee be- 
handelt worden, ernstlich eine Verständigung mit Rußland und 
Frankreich über die zahlreichen Gegensätze in allen Weltteilen zu 
suchen. Praktische Resultate hat dieses Bestreben noch nicht erzielt; 
zu schroff stehen sich die Interessen im Mittelmeere, auf der Balkan- 
halbinsel, in Egypten, in Asien und Afrika gegenüber, um in ab- 
sehbarer Zeit eine Ausgleichung erwarten zu lassen. Die russische 
Presse antwortete auf den ersten englischen Annäherungsversuch 
wenig entgegenkommend, und die Verständigung mit Frankreich 
wird durch die bevorstehende Unterwerfung Madagaskars nicht er- 
leichtert werden. 
Deutsch- In Deutschland stand der Anfang des Jahres 1894 unter 
land. dem Zeichen des Kampfes um die Steuerreform (vgl. 1893 S. 346) 
und den russischen Handelsvertrag. Der Grundgedanke des Steuer- 
planes, das Reich von den Matrikularbeiträgen der Einzelstaaten 
unabhängig zu machen, wurde zwar im Prinzip von den meisten 
Parteien anerkannt, aber die konkreten Vorschläge der Regierung 
fanden keine Mehrheit; die Tabak= und Weinsteuer mußten zurück- 
gezogen werden, doch kündigte der Reichskanzler am Schluß der 
Session die Einbringung neuer finanzpolitischer Vorschläge für die 
nächste Session an. In der That ist dem Reichstage ein neuer 
Gesetzentwurf über die Tabaksteuer zugegangen. 
Ein besseres Schicksal hatte der russische Handelsvertrag, der 
im Reichstage trotz heftigsten Widerstandes der agrarischen Parteien 
mit einer Mehrheit von ungefähr 50 Stimmen angenommen wurde.
	        
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