Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

68 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 20.—21.) 
20. Februar. Der Kaiser nach Wilhelmshaven zur Re- 
krutenvereidigung. Am 21. kehrt er über Bremen nach Berlin 
zurück. 
21. Februar. (Abgeordnetenhaus.) Staffeltarife. 
Auf der Tagesordnung stehen folgende Anträge: 
Ein Konservativer: Das Haus der Abgeordneten wolle beschließen: 
Die königliche Saatsregierung zu ersuchen, die Entscheidung über Beibehal- 
tung oder Aufhebung der Staffeltarife für Getreide und Mühlenfabrikate 
bis nach der Entscheidung über den deutsch-russischen Handelsvertrag aus- 
zusetzen. 
 Ein Freikonservativer: Die königliche Staatsregierung zu ersuchen, 
die Entscheidung über Beibehaltung oder Aufhebung der mit ermäßigten 
Streckensätzen für Getreide und Mühlenfabrikate eingeführten Tarife auszu- 
setzen, bis seitens der königlichen Staatsregierung über die zur Beseitigung 
bezw. Milderung des landwirtschaftlichen Notstandes zu ergreifenden Maß- 
regeln Beschluß gefaßt und dem Landtage entsprechende Mitteilung gemacht 
sein wird. 
Min. Thielen: Ich gestatte mir namens der Staatsregierung be- 
züglich der Frage der Aufhebung der sog. Getreidestaffeltarife vom 1. Sep- 
tember 1891 folgende Erklärung abzugeben. Die vielfach erörterte und ver- 
schieden beantwortete Frage des Einflusses der am 1. September in Form 
einer fallenden Skala eingeführten Tarifermäßigung für Getreide, Hülsen- 
früchte und Mühlenprodukte (Staffeltarife) hat neuerdings im Hinblick auf 
den Abschluß des russischen Handelsvertrages und den im Bundesrat ein- 
gebrachten Gesetzentwurf auf Aufhebung des Identitätsnachweises bei Aus- 
fuhr von Getreide eine erhöhte Bedeutung gewonnen. — Während im all- 
gemeinen die Landwirtschaft, das Mühlengewerbe und der Getreidehandel 
in den östlichen Provinzen für die Beibehaltung dieser Tarife eintreten und 
hierin, sowie in der Aufhebung des Identitätsnachweises vielfach einen Aus- 
gleich für befürchtete nachteilige Folgen des russischen Handelsvertrages er- 
blicken, überwiegt in den mittleren und westlichen Teilen des Landes die 
Auffassung, daß im Falle der Genehmigung des russischen Handelsvertrages 
und der Aufhebung des Identitätsnachweises die angeblich schon jetzt infolge 
jener Tarifermäßigung eingetretenen Schädigungen der dortigen Landwirt- 
schaft, Müllerei und des Getreidehandels einen bedrohenden Charakter an- 
nehmen könnten. Wenn auch die Staatsregierung daran festhält, daß die 
Bildung der Eisenbahngütertarife nach Sätzen, die mit wachsender Entfer- 
nung fallen, im allgemeinen auf wirtschaftlich richtigen Gründen beruht, 
so hat sie sich doch angesichts der erwähnten Thatsachen veranlaßt gesehen, 
unerwartet in eine erneute Untersuchung des wirtschaftlichen Einflusses der 
Wirkung der Staffeltarife einzutreten, und die Frage, ob und bezw. durch 
welche Maßnahmen ein Ausgleich der verschiedenen von diesen Tarifen be- 
rührten Interessen zu ermöglichen ist, mit dem in kürzester Zeit zu berufen- 
den Landeseisenbahnrat zu erörtern. Die Staatsregierung wird nicht er- 
mangeln, dem Landtage der Monarchie von dem Ergebnis dieser Erörterung 
und dem von ihr in dieser Angelegenheit demnächst zu fassenden Beschlusse 
baldthunlichst Mitteilung zu machen. Ich kann dieser Erklärung hinzu- 
fügen, daß der Landeseisenbahnrat auf den 6. März und der Ausschuß des 
Landeseisenbahnrats auf den 3. März einberufen ist. 
Das Haus verzichtet hiernach auf eine Diskussion der Anträge. 
21. Februar. (Russischer Handelsvbertrag.) 
Die zur Besprechung des russischen Handelsvertrags einberufene außer-
	        
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