Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Elfter Jahrgang. 1895. (36)

100 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 2.) 
Der „Reichs-Anzeiger" schreibt im amtlichen Teile: „Fürst 
Bismarck vollendet heute das achtzigste Lebensjahr. Die zahllosen Beweise 
aufrichtiger Liebe und Verehrung, welche ihm aus diesem Anlaß von nah 
und fern, von hoch und niedrig in den letzten Tagen und Wochen zu teil 
geworden sind, legen Zeugnis davon ab, daß die Dankbarkeit für seine 
unsterblichen Verdienste um Deutschlands Macht und Größe unauslöschlich in 
den Herzen des deutschen Volkes eingegraben ist. Möchte den heißen Wünschen 
für sein ferneres Wohlergehen, die heute überall, wo Deutsche zusammen- 
wohnen, zu Gott emporsteigen, Erfüllung beschieden sein und Deutschlands 
großer Sohn noch lange Jahre hindurch die Freude haben, das von ihm 
im Dienste seines glorreichen Heldenkaisers geschaffene Werk der deutschen 
Einheit immer mehr wachsen und sich befestigen zu sehen!“ 
Die (klerik.) „Köln. Volksztg.“ vergleicht die Bismarckfeier mit 
der sozialdemokratischen Demonstration an den Gräbern der am 18. März 
1848 in Berlin Gefallenen: „Wer die Massenbesuche im Friedrichshain (am 
18. März) gesehen hat, dürfte ihnen — wenn er überhaupt politisches Ver- 
ständnis hat — ungleich mehr Bedeutung zuschreiben, als den Bismarck- 
kommersen der Bourgeoisie und ihres Anhangs.“ 
„Westfälischer Merkur (ultramontan): „Dem Mitbegründer und 
ersten Kanzler des neuen Deutschen Reiches Fürsten Otto von Bismarck, 
Herzog von Lauenburg, wollen auch wir zur heutigen Vollendung seines 
80. Lebensjahres ein ehrlich gemeintes „Ad multos annos!“ zurufen. Möge 
ihm — zu seiner eigenen Freude wie zur Freude der Seinen — in dem 
stillen Burg= und Waldfrieden von Friedrichsruh, Varzin und Schönhausen 
zu ungestörter Vorbereitung für die Ewigkeit noch ein langer Lebensabend 
voll Ruhe, Frieden und Zufriedenheit beschieden sein, ein gerüttelt und ge- 
schüttelt volles Maß von otium cum dignitate. 
Der „Vorwärts“ schreibt über die Feier des 1. April: „Der 
1. April 1895 war ein Ehrentag des deutschen Volkes. Alles, was Macht, 
Reichtum und sonst materiellen Einfluß hat, mühte sich ab, den 80. Ge- 
burtstag des schlimmsten Despoten der Neuzeit zu einem Volksfest zu machen. 
Allein das Volk hat allen Demagogenkünsten — allen Ueberredungen und 
Verlockungen widerstanden. Es überließ es seinen Feinden, vor ihrem 
Häuptling auf dem Bauche zu rutschen, und nahm die Schmach nicht auf 
sich, seine eigene Schande zu feiern. Die uns vorliegenden Nachrichten aus 
allen Teilen von Deutschland stimmen darin überein, daß das Volk überall, 
wo es eins gibt, sich dem Rummel ferngehalten hat.“ 
Von den freisinnigen Zeitungen veröffentlichen Huldigungsartikel u. a. 
die „Voss. Ztg.“, „Weser Ztg.“, „Saale Ztg.“, „Danzg. Ztg.“, 
„Frankf. Ztg.“, „Börsen-Courier". 
2. April. (Friedrichsruh.) Fürst Bismarck empfängt eine 
Deputation der Münchener unter Führung des Bürgermeisters, die 
ihm den Ehrenbürgerbrief überreicht. Auf eine Ansprache er- 
widert er: 
„Meine Herren, ich bin Ihnen vom Herzen dankbar, daß eine so 
angesehene Stimme wie die der Hauptstadt des mächtigen Bayernlandes sich 
den Adressen, den Anerkennungen zugesellt, die ich am gestrigen und am heu- 
tigen Tage erfahren habe und ich freue mich noch des Empfanges in München 
vor drei Jahren, der schon ein Vorspiel der heutigen Auszeichnung war. 
Ich freue mich, mit der Stadt wieder in nähere Berührung zu kommen 
und auf diese Weise sagen zu können, daß ich wirklich Münchener Bürger 
bin und als solcher mein Spatenbräu mit mehr bayerischem Bewußtsein
	        
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