102 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 8.)
Das Reichsgericht verurteilt den früheren Kanzler von Kamerun
Leist zur Dienstentlassung unter Belassung der halben Pension auf drei
Jahre und in die Kosten.
8. April. (Friedrichsruh.) Fürst Bismarck empfängt un-
gefähr 800 Lehrer höherer Lehranstalten und erwidert auf eine
Ansprache:
„Meine Herren! Ich danke Ihnen zunächst herzlich für die Adresse,
die ich soeben gehört habe, und wende mich dann an unsere Kommilitonen
— aber ich bitte, ich bin selbst alt und kahl genug, um zu wissen, was
das heute heißt, im bloßen Kopfe! — Meine Herren, die Ehre, die Sie
mir erwiesen, bildet einen Bruchteil der mannigfaltigen Auszeichnungen,
die mir heutzutage aus allen deutschen Ländern und darüber hinaus zu
Teil werden und zwar mir als dem Erben meiner Mitarbeiter von der
Zeit Kaiser Wilhelms I. Ich stehe mit denen gewissermaßen in dem Ver-
hältnis eines Tontine-Vertrages: der Ruhm der Absterbenden erbt auf die
Ueberlebenden zusammen (Rufe nein! Eigener Ruhm!) und so fällt auch
mir, der ich entweder jünger zur Arbeit gekommen bin oder langlebiger
geschaffen bin, ein Anteil an der Gesamtheit des Ruhmes meiner Mit-
arbeiter mit in das Kredit hinein. Wenn ich das nicht so auslegen könnte,
so würde es überwältigend und demütigend auf mich wirken wie eine
Ueberschätzung. Ich habe als einzelner meine Schuldigkeit in meinem Dienste
gethan als meines Königs Mitarbeiter, und Gottes Segen hat es gedeihen
lassen. Aber ich muß auch Ihres Anteils an diesem Segen noch gedenken.
Sie sprachen in der eben verlesenen Ansprache von der Dankbarkeit, die der
Lehrerstand mir gegenüber empfinde. Meine Herren, das Gefühl ist ein
gegenseitiges. Das ist für mich zum Durchbruch gekommen in der Zeit
meiner politischen Arbeit. Hätte ich nicht die Vorarbeit des höheren Lehrer-
standes in unserer Nation vorgefunden, so glaube ich nicht, daß mein Werk,
oder das Werk, an dem ich mitgearbeitet habe, in dem Maße gelungen
sein würde. Ihnen hat die Pflege der Imponderabilien obgelegen, ohne
deren Vorhandensein in der gebildeten Minorität unseres Volkes die Er-
folge, die wir gehabt haben, nicht möglich gewesen sein würden. Die Liebe
zum Vaterlande, das Verständnis für politische Situationen, für diese und
andere Eigenschaften werden die Keime gelegt in dem Stadium des Menschen-
lebens, welches Ihrer Pflege vorzugsweise anheimfällt. Unsere Erziehung
gehört bis zum 14. Jahre der Volksschule oder bis zum 19. der höheren
Schule, nachher der Universität, dem Leben und den Frauen. Das durch-
schnittliche Alter, bis zu dem die Jugend Ihrer Pflege und Erziehung
unterliegt, schließt mit dem 19., 20. Jahre des Abiturienten in der Regel
ab, manchmal später, manchmal früher. Aber der Charakter des jungen
Mannes legt sich gerade in dieser Zeit fest. Es ist nicht sehr oft der Fall,
daß er auf der Universität oder später eine Modifikation erleidet, wenigstens
nicht in der Liebe zum Vaterlande, die ihm auf der höheren Schule ein-
geprägt worden ist. Die Erfolge der nationalen Entwickelung eines jeden
Landes beruhen hauptsächlich auf der Minorität der Gebildeten, die das
Land enthält. (Bravol) Ich habe bei irgend einer neulichen Gelegenheit
einmal gesagt: Eine Verstimmung der abhängigen Massen kann eine akute
Krankheit hervorrufen, für die wir Heilungsmittel haben; eine Verstimmung
der gebildeten Minorität ruft eine chronische Krankheit hervor, deren Diagnose
schwer ist und deren Heilung langwierig. (Bravo !) Und deshalb lege ich
das Hauptgewicht auf die Erziehung und die Gesinnung der gebildeten
Klassen in jedem Lande. Wir können bei uns — von den dynastischen