Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Elfter Jahrgang. 1895. (36)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 15.) 107 
Jahrtausende viel mit einander gerauft haben. (Große Heiterheit.) Ich 
hoffe, es wird in Zukunft nicht wieder vorkommen. (Rufe: Nein!) Ich 
hoffe, wir haben eine Form gefunden, in der wir nebeneinander leben können 
und die in bewußter Weise — wenigstens von den leitenden Prinzipien 
kann ich das sagen — nicht zerbrochen und nicht beschränkt wird; dazu 
gehört vor allem also unsere Einigkeit mit dem österreichisch-ungarischen Reich, 
(Bravo !) auf die wir geschichtlich angewiesen sind seit langen Zeiten. Und 
wir können in Zorn geraten, vom Leder ziehen, aber wir kommen immer 
wieder zusammen, weil wir auf einander angewiesen find und namentlich 
so, wie das heutige europäische Staatsgebilde ist, können wir gar nicht, 
ohne einander Treue und Freundschaft zu halten, in eine ruhige Zukunft 
Europas blicken. Der einzelne Staat in Europa wird immer der Möglich- 
keit einer Koalition ausgesetzt sein. Ein Bündniß von dem Gewicht, wie 
es der heutige Dreibund, repräsentirt, kann immer von sich sagen mit dem 
alten schottischen Spruch: „Nemo mo impune lacessit" und wird im 
Stande sein, sich zu wehren. Wenn man also das Bedürfniß hat, um 
Anlehnung sich umzusehen, so liegt für uns doch die Anlehnung an Oesterreich- 
Ungarn näher, wie irgend eine andere. Auch auf die an Italien sind 
wir durch die Geschichte angewiesen. Wir haben in beiden Ländern durch 
das Ungeschick der gemeinsamen Kaiserlichen Regierung gelitten, indem wir 
zerfallen sind in nicht existenzfähige Größen untereinander. Wir mußten 
uns wieder zusammenfinden, wir haben eingesehen, daß das zu unserem 
Heile notwendig ist. Die Basis dieses Dreibundes, der den Frieden Europas 
erhält, ist ja unsere Beziehung und unsere Intimität zum österreichisch- 
ungarischen Kaiserstaat und da habe ich schon früher an unsere Stammes- 
genossen in Oesterreich das Verlangen gerichtet, diese Einheit, diese Freund- 
schaft zwischen beiden großen Nachbarreichen und beiden historisch mit ein- 
ander eingelebten Nachbarreichen zu pflegen nach ihren Kräften. Je stärker 
der Einfluß der Deutschen in Oesterreich sein wird, desto sicherer werden die 
Beziehungen des Deutschen Reiches zu Oesterreich sein (Rufe: Bravo! Heil !) 
und deshalb Sie, die Deutschen Oesterreichs, können es nicht über Ihr Gewissen 
und Ihr Gefühl bringen, zu treiben zum Kampfe gegen das deutsche West- 
reich und ich hoffe, Sie werden es auch zum Teil über ihr Gefühl bringen, den 
Frieden zwischen dem alten Ostreich und dem deuschen Westreich dadurch zu 
pflegen, daß Sie sich in möglichst engen und einflußreichen Beziehungen zu Ihrer 
ursprünglich deutschen Dynastie halten. Die Dynastie ist schließlich doch für die 
auswärtigen Beziehungen eines jeden Reiches, so lange sie überhaupt besteht, 
— und daß sie lange und dauernd besteht, wird Ihrer aller Wunsch sein — 
aber so lange sie besteht, ist sie doch der einflußreichste Faktor in der Wahl 
der auswärtigen Beziehungen. Also, meine Herren, Sie können ihr Wohl- 
wollen für ihre Stammesgenossen im Deutschen Westreich nicht wirksamer 
bethätigen, als indem Sie ihre Beziehungen zur eigenen Dynastie pflegen 
und mehr von der Seite des Gemüts wie von der des Verstandes und der 
juristischen Argumente pflegen und beurteilen. Ich habe in Sr. Majestät 
Ihrem Kaiser, mit dem ich seit 1852 in direkten geschäftlichen Beziehungen 
gestanden habe, wo ich zuerst preußischer Gesandter in Wien eine Zeitlang 
war, immer doch ein deutsches Herz und die Spuren der deutschen Ab- 
stammung gefunden. Man kann ja in Oesterreich sich nicht einer Nationalität, 
namentlich wenn man Ungarn mit einrechnet, ausschließlich widmen. Die 
Vorsehung muß den Kampf der Nationalitäten gewollt haben, sonst wäre 
es ja für ihre Ureinrichtung leicht gewesen, in der ganzen Welt oder wenig- 
stens in Europa eine einzige Nationalität zu schaffen. Wenn nun deren 
viele nebeneinander wohnen, einander bekämpfend und widersprechend, ein- 
ander von Hause aus nicht liebend, wenn erst die Liebe und das Wohl- 
 
	        
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