Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwölfter Jahrgang. 1896. (37)

Das Venische Reich und seine einzelnen Glieder. (November 16.) 123 
Reiche stattgefunden haben, ist seiner Zeit unbedingte Geheimhaltung ver- 
abredet worden. Der Zeitpunkt, von welchem an die Verpflichtung auf- 
hört, kann hiernach von uns nicht einseitig bestimmt werden. Ich bin da- 
her zur Zeit nicht in der Lage, über das Ergebnis dieser Verhandlungen 
amtliche Auskunft zu erteilen. Was sodann die Haltung der deutschen 
Politik gegenüber Rußland seit dem Frühjahr 1890 betrifft, so ist auch 
hier meinerseits eine erschöpfende Antwort nicht möglich, so lange jene Ver- 
pflichtung fortbesteht. Was in dieser Beziehung gesagt werden kann, über- 
lasse ich dem Herrn Staatssekretär des Auswärtigen Amtes darzulegen, 
der damals an den Beratungen teilgenommen hat. Nach sorgfältigster 
Prüfung des vorhandenen Materials kann ich nicht umhin, die Gründe, 
welche damals die deutsche Politik leiteten, als vollwichtig anzuerkennen. 
Dabei kann ich der Ueberzeugung Ausdruck geben, daß eine ungünstige Ver- 
änderung in unseren Beziehungen zu Rußland als Folge jener Politik 
sich nicht fühlbar gemacht hat. Die Behauptung, daß damals oder jetzt 
englische oder überhaupt auswärtige Einflüsse mitgewirkt hätten, muß ich 
als jeder Begründung entbehrend zurückweisen. Was die Wirkung betrifft, 
welche die jüngsten Veröffentlichungen auf die Stellung Deutschlands im 
Dreibunde und sein Verhältnis zu den übrigen europäischen Mächten ge- 
habt haben, so freue ich mich, erklären zu können, daß die Wolke des Miß- 
trauens, welche sich im ersten Augenblick in einzelnen Schichten der Be- 
völkerung jener Länder gezeigt hat, wieder verschwunden ist, und daß unser 
Verhältnis zu unseren Verbündeten nach wie vor getragen ist von unbe- 
dingtem gegenseitigen Vertrauen! Desgleichen haben unsere Beziehungen 
zu Rußland keinen Augenblick aufgehört, gute und freundschaftliche zu sein. 
(Lebhaftes Bravo.) 
Staatssekrekär v. Marschall: Ich bin mir der großen Schwierig- 
keit meiner Aufgabe wohl bewußt; sie liegen in der Sache, aber nicht nur 
in der Sache. Ich bitte, von mir keine Enthüllungen zu erwarten, ich habe 
dazu keine Berechtigung. Sie würden aber voraussichtlich nur den Streit 
vermehren; denn Streit haben wir genug im Lande. (Sehr richtig!) Meine 
Aufgabe ist die Beleuchtung gewisser Angriffe. In dem jüngsten Streite 
sind zwei Anschauungen hervorgetreten, die sich in diametraler, entgegenge- 
setzter Richtung bewegen. Die eine, daß die deutsche Politik seit 1890 
schwere Fehler begangen und wichtige Garantien preisgegeben habe, die 
andere, daß die Politik vor 1890 Verabmachungen getroffen, die mit anderen 
Verabredungen im Widerspruch stehen. Die zweite Anklage ist die schwerer 
wiegende, denn sie trifft uns dort, wo wir einen gewissen Stolz haben, und 
darum wende ich mich zunächst gegen diese Anklage, weil darin der Vor- 
wurf erhoben wurde, als ob der deutsche Staat irgendwelche Abmachungen 
getroffen hätte, die dem Geiste der Verträge widersprächen. Das ist nicht 
geschehen; ich kann es nur im Wege einer aktenmäßigen Darstellung dar- 
thun, warum die deutsche Politik seit 1890 den bekannten Weg gegangen 
ist, und ich knüpfe an die jüngste Enthüllung an und an den Grundsatz, 
der damals aufgestellt wurde, daß die Rückversicherung die Versicherung 
stärke. Bei aller Bewunderung des staatsmännischen Gedankens, der darin 
liegt und der in seinen letzten Konsequenzen dahin führen könnte, durch ein 
Netz von Verträgen den Frieden dauernd zu sichern, so wird der Zweifel 
laut, ob durch die Mehrheit der Verträge der Wert derselben sich steigert. 
Selbst bei den Nationen, welche Grund zu haben glauben, mit ihrem Lose 
nicht zufrieden zu sein, besteht ein so tiefes Bedürfnis zum Frieden, daß 
die betreffenden Regierungen alles anwenden werden, um von sich das Odium 
des Angriffes abzuwehren. Es ist immer die Frage zu entscheiden, wer der 
Angreifende und wer der Angegriffene ist. Bei einem Bündnisvertrage
	        
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