Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwölfter Jahrgang. 1896. (37)

Bie Gesterreihisch-Angerische Monarchie. (Dezember 17.) 179 
Das Protonpseudos der falschen Auffassung liegt in der Verkennung 
des Zweckes des deutsch-russischen Neutralitätsvertrages. Dieser Zweck be- 
stand in nichts anderm, als in der verstärkten Sicherung Deutschlands gegen 
die Eventualität, daß Frankreich, wenn es zur Verwirklichung seiner Re- 
vancheideen einen neuen Krieg gegen Deutschland begänne, die Unterstützung 
Rußlands finden könne. Lant Artikel 2 des deutsch-österreichischen Bünd- 
nisvertrages wäre zwar Oesterreich für den Fall, daß Rußland in Form 
einer aktiven Kooperation oder durch sonstige militärische Maßnahmen, 
welche Deutschland bedroht hätten, den französischen Angriff auf Deutsch- 
land unterstützte, verpflichtet gewesen, Deutschland mit seiner gesamten Kriegs- 
macht beizustehen; aber es lag begreiflicherweise sowohl im Interesse Deutsch- 
lands, wie im Interesse des Friedens, dem das Bündnis dienen sollte, daß 
diese Eventualität vermieden blieb. Dies wurde erreicht durch den Abschluß 
des deutsch-russischen Neutralitätsvertrages. Derselbe hatte, kurz ausgedrückt, 
den Zweck, Rußland zu verhindern, seine Armee in den Dienft der franzö- 
sischen Revancheidee zu stellen; er wollte dadurch die Gefahr eines europä- 
ischen Koalitionskrieges vermindern. Er war namentlich mit Rücksicht auf 
die Eventualität geschlossen worden, daß in Rußland polnische, panflavi- 
stische und französische Einflüsse ein Schwergewicht erlangten, welches im 
kritischen Momente auf die russische Politik in dem Maße gedrückt haben 
würde, daß Rußland ohne durch eigene Lebensinteressen zwingend dazu ge- 
nötigt zu sein, sich dazu hergegeben hätte, den Franzosen zu Elsaß-Lothringen 
mit der Rheingrenze und der Reaktivierung der 1870 verloren gegangenen 
„Prépondérance légitime“ zu verhelfen. 
Wir glauben, daß dieser Zweck des deutsch-russischen Vertrages nicht 
nur im Interesse Deutschlands lag, sondern ebensogut in dem Oesterreich- 
Ungarns, welches dadurch der Verpflichtung überhoben war, seine Soldaten 
gegen Frankreich marschieren zu lassen, wenn dieses Deutschland angriff und 
dabei von Rußland unterstützt wurde. Der deutsch-russische Vertrag war 
mithin eine Friedensgarantie im eminentesten Sinne des Wortes, und er 
hat, wie wir zu wissen glauben, die Zustimmung der österreichisch-ungari- 
schen Staatsmänner nicht nur verdient, sondern auch gefunden. 
Einwände gegen den Vertrag konnten von österreichisch-ungarischer 
Seite nur von solchen Politikern erhoben werden, welche entgegen der fried- 
lichen Tendenz des deutsch österreichischen Bündnisses die Ansicht verraten, 
daß dasselbe Deutschland zur militärischen Hilfeleistung an Oesterreich-Un- 
garn auch für den Fall verpflichte, daß letzteres Rußland seinerseits an- 
greise. Wenn die Vertreter dieser irrigen Auffassung, die immer mehr 
trans= als cisleithanisch vorhanden waren, im Rechte gewesen wären, dann 
— aber auch nur dann — wäre der Vorwurf berechtigt gewesen, daß 
Deutschland versucht hätte, sich seinen Verpflichtungen gegen Oesterreich- 
Ungarn durch den Abschluß des Abkommens mit Rußland zu entziehen; 
wie die Dinge aber in Wirklichkeit liegen, hat das deutsch-russische Ab- 
kommen nicht nur nicht Oesterreich-Ungarn beeinträchtigt, sondern ihm 
direkt genützt dadurch, daß es die Verpflichtung desselben zur militärischen 
Hilfeleistung an Deutschland de facto einschränkte, ohne andererseits die zu 
Recht bestehende Verpflichtung Deutschlands gegen Oesterreich zu vermindern. 
Wie oben schon angedeutet wurde, glauben wir zu wissen, daß die 
österreichisch-ungarischen Staatsmänner von dem deutsch-russischen Abkommen 
nicht nur gewußt, sondern dasselbe auch gebilligt und stets bereitwillig im 
Interesse des eigenen Landes es acceptiert haben, daß Deutschland auf 
Grund seiner Beziehungen zu Rußland in der Lage war, Konflikten zwi- 
schen Oesterreich-Ungarn und Rußland oder wenigstens einer friedensbedroh- 
lichen Entwickelung derselben vorzubeugen. 
  
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