Großbritannien. (Oktober.) 203
Am 5. Oktober schreibt Rosebery an den Einpeitscher der liberalen
Partei: „Ich befinde mich in der Stellung zur Orientfrage in offenbarem
Gegensatze zur großen Masse der liberalen Partei und in einer gewissen
Meinungsverschieden heit mit Gladstone, der doch unbedingt den maßgebenden
Einfluß in der Partei immer behalten muß. Andererseits erhalte ich kaum
von irgend einer Seite eine sichere Unterstützung. Diese Frage geht aber
über persönliche Rücksichten hinaus. Wenn ich in dieser Woche sprechen
soll, so muß ich frei heraus sprechen können, und da ist es für die Partei
und für mich das Beste, daß ich nicht als Führer der Partei, sondern als
freier Mann spreche. Ich teile Ihnen daher mit, daß die Führerstelle der
Partei vakant ist, und daß ich meine Aktionsfreiheit wieder aufnehme."
Am 9. Oktober legt er seine Auffassung in einer Volksversammlung
zu Edinburg ausführlich dar, wo er die Differenzen in der inneren Politik
nicht berührt. Er bespricht die armenische Frage, wobei er die Agitation,
welche dieselbe in England hervorgerufen hat, keineswegs verurteilt, sondern
gut heißt, weil sie bekundet hätte, daß der englische Nationalgeist noch nicht
erstorben und das englische Volk durch materielle Wohlfahrt nicht entnervt
sei, zumal weil sie auch dahin wirke, hiervon die auswärtigen Regierungen
zu überzeugen, welche einer solchen Ueberzeuguug sehr bedürftig seien. Eng-
land bedürfe in dieser Beziehung viel mehr des Zügels als des Ansporns.
Man könne nicht zulassen, daß die ganze auswärtige Politik des Landes
selbst nur unmittelbar durch den Sultan und die Frevelthaten der Kurden
bestimmt werde, oder daß alle anderen Interessen des Vaterlandes einem
einzigen Interesse zum Opfer gebracht werden., „Die heutige Lage gleicht
nicht derjenigen zur Zeit der bulgarischen Greuel. Damals war Rußland
auf unserer Seite, heute ist es, nach den letzten Nachrichten zu urteilen,
gegen uns.“ Redner hält es für seine Pflicht, der Regierung in dieser
Richtung alle mögliche Beihilfe zu leisten, und erklärt, daß er auf dem
Gebiete der auswärtigen Politik niemals ein Parteiprinzip anerkannt habe.
Die Frage der Metzeleien in der Türkei sei viel ausgedehnter, als man an-
nehme. Es handle sich um die wirkliche Ortentfrage, welche seit langer
Zeit als ein Alp auf Europa laste; daher werden partielle Heilmittel un-
nütz sein. Redner bespricht nunmehr die verschiedenen in Vorschlag gebrachten
Mittel zur Abhilfe, wie die Absetzung des Sultans; er beweist deren Un-
ausführbarkeit und sagt, man müsse alle Vorschläge sehr sorgfältig prüfen,
ehe man bei der Regierung auf deren Ausführung dränge. Bei Erörterung
der Frage einer Annäherung an Rußland erinnert Rosebery an die von
einer liberalen Regierung abgeschlossene Pamirkonvention und gab der Hoff-
nung Ausdruck, daß ein Mittel gefunden werde, um zu einem Einvernehmen
mit Rußland zu gelangen, doch betont er, daß die Engländer sich nicht
immer geneigt zeigen werden, das Lob der russischen Verwaltung zu ver-
künden oder ihr in allen Teilen der Welt die gleiche Autorität zu über-
tragen. Ueber die Beweggründe seines Rücktritts sagt er: er könne den
Vorschlägen Gladstones nicht beistimmen; Gladstone sei die indirekte Ursache
seines Rücktrittes. Wenn man den Botschafter von Konstantinopel zurück-
beriefe, würde England nicht im europäischen Konzerte vertreten sein. Ein
solcher Schritt könnte den Krieg herbeiführen. Redner glaubt nicht, daß
die Ehre Englands durch den Cypernvertrag engagiert sei, da der Sultan
seine eigenen Verpflichtungen nicht erfüllt habe. Er schließt mit der Bemer-
kung, er werde sich einer isolierten Intervention Englands im Orient aufs
äußerste widersetzen, da hieraus ein europäischer Krieg hervorgehen würde.
Lord Rosebery legt einem Festhalten an der Insel Cypern keinen Wert
bei, weder in strategischer, noch in anderer Hinsicht, hält aber eine Rück-
gabe der Insel an die Türkei für unmöglich, sonst würde er die Aufgabe