Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwölfter Jahrgang. 1896. (37)

268 Rußland. (September Ende.—Oktober 9.) 
Ende September. Oktober. Die russische Presse weist die 
englischen Versuche, eine Verständigung in der Orientfrage herbei- 
zuführen, zurück (S. 202). 
Der „Swet“ schreibt: Es wäre sonderbar, wenn Rußland willig 
die Belehrungen über Humanität annehmen würde, welche dem festländischen 
Europa England zu erteilen beansprucht, das selbst die blutigen Verwicke- 
lungen im Orient genährt und übertrieben hat. Die russische Politik ist 
klar, offen und ehrlich, was ihr die Sympathien Europas eingebracht hat. 
Daher hängt es von England ab, die Lage zu verstehen oder nicht zu ver- 
stehen, und durch eine andere als die bis jetzt verfolgte Politik zu einer 
gründlichen Beruhigung Europas zu gelangen. 
Die „Now. Wremja“: Einige englische Blätter bieten uns in 
einem Anfall von Großmut und mit echt britischer Majestät sogar Konstan- 
tinopel an, als ob Konstantinopel den Engländern gehörte. Um Konstan- 
tinopel zu besetzen, müßte man doch vorher der Türkei den Krieg erklären 
und wiederum alle Lasten dieses Krieges mit seinen sämtlichen Folgen auf 
sich nehmen. Rußland wünscht jedoch den Frieden und hofft immer noch, 
daß ein festes Auftreten unserer Diplomatie in Konstantinopel unter der 
Beihilfe Frankreichs auch ohne Blutvergießen die Armenier und die son- 
stigen türkischen Christen vor einer Wiederholung jener Greuel schützen 
kann, welche die Mohamedaner verübt haben. 
5. bis 9. Oktober. Aufenthalt des Zarenpaars in Frankreich 
(S. 222). Stimmen der Presse über Rußland und Frankreich. 
„Journal de St. Pétersbourg": „Es wäre ungerecht, nicht an- 
zuerkennen, daß schon vor den großen Ereignissen die innere Situtation auf 
dem besten Wege zur Beruhigung war. Dazu hat, wie wir während der 
letzten Monate stets erklärt haben, die weise und maßvolle Politik des 
jetzigen Kabinets viel beigetragen. Gewiß waren jene großen Ereignisse 
an und für sich dazu angethan, die Einigung, die im Lande vorgegangen 
ist, zu erklären und zu veranlassen, der innere Friede, der vom Ministerium 
Méline mit so viel Festigkeit angestrebt wurde, war aber gleichfalls hier- 
bei von wohlthätiger Bedeutung. Auf diese Weise hat sich keine Dissonanz 
in dieser Gesamtheit von warmen Manifestationen, bei denen jeder seinen 
Platz hatte, bemerkbar machen können.“ 
„Now. Wremja“: „Es handelt sich nicht um die platonische „Ver- 
brüderung“ zweier Völker (die ist schon längst eine vollzogene Thatsache), 
sondern um die endgültige, feierlich der ganzen Welt zu verkündende Be- 
siegelung der Freundschaftsbande zwischen zwei mächtigen Staaten, welche 
sich die andauernde Beruhigung ganz Europas zum einzigen Ziel gesteckt 
haben und Hand in Hand im vollen und klaren Bewußtsein der Größe 
und Heiligkeit ihrer historischen Aufgabe diesem Ziele entgegengehen. Gerade 
deshalb werden die Gefühle, mit denen ganz Rußland aus der Ferne bei 
den Ereignissen der jetzigen Wochen zugegen ist, mit dem Gefühle ganz 
identisch sein, welches die ganze französische Nation beseelt, der wir unseren 
aufrichtigen Bewillkommnungsgruß zusenden."“ 
„Rußk. Wedomosti“: „Bis jetzt waren die Beziehungen zwischen 
Rußland und Frankreich wenigstens offiziell durch keinen solchen Vertrag 
besiegelt, wie er die Staaten der mitteleuropäischen Liga mit einander ver- 
knüpft. Mehr als einmal haben beide Staaten ihre gegenseitige Zuneigung 
bekundet und bei verschiedenen Anlässen erhielt sie einen sehr deutlichen 
Ausdruck. Soweit bekannt, ist jedoch keiner von ihnen im Hinblick auf die 
einen oder anderen internationalen Ereignisse durch formelle Verpflichtungen
	        
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