Das Veutsche Reich nnd seine einzelnen Glieder. (Mai 18.—22.) 95
man sieht nur geschmeidige Höflinge, avancierte Bureaukraten und schneidige
Husarenpolitiker, Handlanger, aber im gewöhnlichen Sinne des Wortes.
(Lebhafter Beifall im Zentrum. Händeklatschen auf den Tribünen und im
Hause.) Man sollte nicht vergessen, daß Deutschland keine angestammte
Dynastie hat. Es ist gesagt worden, daß das monarchische Bewußtsein ge-
schwunden ist seit dem Tode Kaiser Friedrichs. Der monarchische Gedanke
wird sich in Deutschland noch lange halten, weil das Entstehen des Staates
enge verwachsen ist mit der Monarchie, weil die Thaten der Vorfahren
noch wirken auf die Nachkommen. Aber es wird an dem monarchischen
Kapital gezehrt in einer Weise, wie es noch vor zehn Jahren nicht möglich
war, nicht durch die Agitationen der Sozialdemokratie, sondern infolge
don Vorgängen, die sich der parlamentarischen Erörterung entziehen, die
aber weite Kreise des Volkes ergriffen haben bis weit in das Beamtentum,
bis ins Offizierskorps hinein. Deutschland ist ein monarchisch-konstitutio-
nelles Land, aber nach dem sic volo sic jubeo oder dem regis voluntas
suprema lex da mag man vielleicht in Rußland regieren, das deutsche
Volk läßt sich auf die Dauer nicht danach regieren. (Lebhafter wieder-
holter Beifall links und im Zentrum, Zischen rechts.) Abg. Bassermann
(nl.) tadelt die preußische Vorlage, die beweise, daß es keine einheitliche,
konseguente Regierung gebe. — Der Antrag wird in erster und zweiter
Lesung in namentlicher Abstimmung mit 207 gegen 53 Stimmen (der kon-
servativen Parteien) angenommen.
18. Mai. Der deutsche Botschafter in Konstantinopel, Frhr.
v. Saurma, erhält den Befehl, bei Herbeiführung einer Waffen-
ruhe mitzuwirken.
19. Mai. Der Reichstag genehmigt in dritter Beratung
gegen die Stimmen der Sozialdemokraten und Freifinnigen das
Auswanderungsgesetz und eine Resolution, die die Errichtung eines
Reichsauskunftsbüreaus fordert, um die Auswanderer in Gegenden
zu weisen, die für die Erhaltung ihrer Nationalität günstig find.
19. Mai. (Gerolstein.) Schweres Eisenbahnunglück, bei
dem 9 Mann getötet, 35 verletzt werden.
22. Mai. Das Preuß. Abgeordnetenhaus genehmigt
ohne Debatte den Bau von 19 Sekundärbahnlinien und 8 Millionen
Mark zum Bau von Kleinbahnen, sowie gegen die Stimmen der
Freifinnigen 2 Millionen Mark zur Errichtung von Getreidelager-
häusern.
Ueber das preußische Staatsbahnnetz schreibt die „Nordd. Allg.
Ztg.“: Das preußische Staatsbahnnetz hat sich von 1870 bis Ende 1890/91
teils durch Verstaatlichung von Privatbahnen, teils durch Eröffnung neuer
Strecken von 3195,17 km auf 24708,15 km, darunter 6309,49 km oder
25,4 Proz. Nebenbahnen mit 3881 Stationen erweitert. Das Anlagekapital
bezifferte sich auf 6 393 451775 „X und verzinste sich in dem gedachten
Jahre mit 5,26 Prozent. Am Schlusse des Etatsjahres 1895/96 waren
27199,91 km, darunter 8265,56 oder 30 Proz. Nebenbahnen im Betriebe.
In dem Etatsjahre 1897/98 soll die Betriebslänge 29 197,44 km, darunter
9184 km Nebenbahnen, erreichen. In diesem Zeitraume von 7 Jahren hat
das Staatsbahnnetz einen Zuwachs von 4489,29 km zu verzeichnen, und