Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 26. —28. 97
Machinationen von Agenten der politischen Polizei aufgedeckt, insbesondere
ihre Bemühungen, Zwietracht zwischen den einzelnen Ministerien zu säen.
— Als Zeugen treten u. a. auf Frhr. v. Marschall, die früheren Minister
v. Köller und v. Bronsart, der Botschafter Graf Eulenburg, Polizei präsident
v. Windheim, Abg. Bebel und viele Journalisten.
Die Presse kommentiert den Prozeß sehr lebhaft, die meisten Zei-
tungen verurteilen das Treiben der politischen Polizei aufs schärfste, viele
fordern ihre Aufhebung. — Frhr. v. Marschall tritt noch vor Beendigung
des Prozesses einen längeren Urlaub an, was vielfach als Einleitung seines
Rücktritts angesehen wird; die Freisprechung des Herrn v. Tausch, der gegen
das Auswärtige Amt intriguiert haben sollte, wird hier und da als eine
Niederlage Marschalls bezeichnet.
26. Mai. Der Reichstag genehmigt in zweiter Beratung
einen Nachtragsetat, betr. die Besoldungsverbesserungen.
28. Mai. (Preuß. Abgeordnetenhaus.) Zweite Be-
ratung der Novelle zum Vereins= und Versammlungsgesetz (val.
S. 92). Abänderungsanträge; Annahme des modifizierten Ent-
wurfs.
Abg. Limburg-Stirum (kons.) beantragt: „Versammlungen, von
denen auf Grund von Thatsachen anzunehmen ist, daß sie die öffentliche
Sicherheit, insbesondere die Sicherheit des Staates, oder die öffentliche Ord-
nung gefährden würden, können von der Landespolizeibehörde verboten
werden.“ Abg. Schmieding (nl.): Die Nationalliberalen würden gegen
jedes Präventivverbot stimmen. Minister des Innern v. d. Recke: Der Re-
gierung sei das Präventivverbot sympathisch. Abg. Frhr. v. Zedtlitz-
Neukirch (frkons.) gegen den Antrag, da eine solche Bestimmung nur zu
Verhetzungen führen werde. — Der Antrag wird gegen die Stimmen der
Konservativen abgelehnt.
Die Kommission hat Art. I und III der Regierungsvorlage gestrichen.
Die Konservativen beantragen an ihre Stelle zu setzen: „Versammlungen,
welche die öffentliche Sicherheit, insbesondere die Sicherheit des Staates,
oder die öffentliche Ordnung gefährden, können von den Abgeordneten der
Polizeibehörde aufgelöst werden“ und „Vereine, deren Zweck oder Thätig-
keit den Strafgesetzen zuwiderläuft oder die öffentliche Sicherheit, insbe-
sondere die Sicherheit des Staates, oder die öffentliche Ordnung gefährdet,
können von der Landespolizeibehörde geschlossen werden."“
Die Freikonservativen beantragen folgende Fassung: „Versamm-
lungen, in welchen anarchistische, sozialdemokratische, sozialistische oder kom-
munistische, auf den Umsturz der bestehenden Staats= oder Gesellschafts-
ordnung gerichtete Bestrebungen in einer die öffentliche Sicherheit, ins-
besondere die Sicherheit des Staates gefährdenden Weise zu Tage treten,
können von den Abgeordneten der Polizeibehörde aufgelöst werden“, und
„Vereine, in welchen anarchistische, sozialdemokratische, sozialistische oder
kommunistische, auf den Umsturz der bestehenden Staats= oder Gesellschafts-
ordnung gerichtete Bestrebungen in einer die öffentliche Sicherheit, insbe-
sondere die Sicherheit des Staates gefährdenden Weise zu Tage treten,
können von der Landespolizeibehörde geschlossen werden. Dasselbe gilt von
Vereinen, welche die Losreißung eines Teiles des Staatsgebietes vom Ganzen
erstreben oder vorbereiten."“
Abg. Schmieding (nl.): Die nationalliberale Partei habe zu den
Polizeibehörden kein Vertrauen und zu der Regierung nicht Vertrauen
Guropäischer Geschichtskalender. Bd. XXXVIII. 7