246 Großbritemnien. (September Anf.)
weit die Kolonien schon bereit seien, einem solchen Wunsche entgegen-
zukommen, darüber fehle es an zuverlässigen Aeußerungen. Der Fortschritt
werde vermutlich nur stufenweise erfolgen können. Deswegen sei es von
Wichtigkeit, daß die Kolonien sich unter sich zu Gruppen zusammenschlössen.
Kanada sei hier mit dem guten Beispiel vorangegangen und könne sich der
gewonnenen Resultate freuen. In der südafrikanischen Politik sei diese
Idee früher stark hervorgetreten und werde voraussichtlich wieder in den
Vordergrund treten. Als zentrale Institution für das Gesamtreich denkt
sich Chamberlain zunächst einen Reichsrat, zusammengesetzt aus Männern,
deren Stimme bei allen Kolonialfragen ins Gewicht fallen müßte. Aus
diesem Reichsrat könnte sich dann mit der Zeit ein das Mutterland und
die Kolonien vertretender Bundesrat entwickeln, der als Ideal im Auge
behalten werden müsse. Von der Frage nach der Form einer engeren
politischen Vereinigung ging der Kolonialminister zu einem zweiten Punkte
über, der die Verteidigung des Kolonialreichs betrifft. Er führte aus, daß
England die 35 Millionen Pfund Sterling, die es jährlich für Marine
und Militär aufwendet, und die mehr als ein Drittel seines Totaleinkom-
mens betragen, fast nur um der Kolonien willen ausgibt. Den Kolonien
wird daher nahegelegt, nach Kräften zur Unterhaltung der Marine beizu-
tragen. Dabei entwickelte Chamberlain noch eine besondere, ganz neue
Idee, indem er den Wunsch ausspricht, England und die Kolonien möchten
künftig ihre Truppenkontingente mit einander austauschen. Nicht bloß
sollten australische Regimenter zur Abwechslung nach England kommen,
englische zeitweise im fünften Weltteil garnisonieren, sondern die Kolonial-=
truppen sollten sich auch von Zeit zu Zeit an den unaufhörlichen Kolonial=
kriegen des Mutterlandes beteiligen. Von solchen Uebungen wollten freilich
die Minister der Kolonien selbst während des Jubiläums nichts wissen.
Von den gepflogenen Berhandlungen teilt das Protokoll äußerst wenig mit,
aber schon aus den veröffentlichten Resolutionen läßt sich entnehmen, wie
vielen Einwendungen und Vorbehalten die Chamberlainschen Ideen bezüg-
lich einer engeren politischen und militärischen Vereinigung bei den Ver-
tretern der Kolonien begegneten. Offenbar war auch der Minister von
vornherein entschlossen, das Hauptgewicht auf die im Sinne eines Zoll-
vereins neu zu regelnden kommerziellen Beziehungen zwischen dem Mutter-
land und den Kolonien zu legen. Die außerordentliche Berschiedenheit der
fiskalischen Einrichtungen macht auch nach Chamberlains Ansicht eine bloße
Nachahmung des preußisch-deutschen Zollvereins unmöglich. Aber als
Ideal müsse man doch ein ähnliches Gebilde im Auge behalten. Zunächst
kommen, wie der Minister weiter ausführt, die Handelsverträge in Be-
tracht. „In den Kolonien,“ bemerkte er, „ist wiederholt in der Form von
Resolutionen und Vorschlägen die Frage aufgeworfen worden, ob nicht
gewisse Verträge, namentlich ein Vertrag mit Deutschland und ein Vertrag
mit Belgien gekündigt werden sollen. Man muß bedenken, daß das für
uns eine äußerst wichtige Frage ist. Unser Handel mit Deutschland und
Belgien ist größer, als unser Handel mit allen Kolonien zusammen. Es
ist möglich, daß, wenn wir diese Verträge kündigten, sich dann Deutschland
und Belaien bestreben würden — ich will nicht sagen, daß es ihnen ge-
länge, aber sie könnten bestrebt sein, sich zu revanchieren, und für einige
Zeit könnten dann ohne Zweifel unsere Handelsbeziehungen mit jenen
beiden Ländern gestört sein. Darum darf ein Schritt dieser Art erst nach
vollster Ueberlegung gethan werden und mit Rücksicht auf eine sehr stark
dahin ausgesprochene Meinung in England sowohl wie in den Kolonien.“
Einer allgemeinen Zustimmung begegnete nur der Wunsch, Föderal-
Unionen unter den Gruppen der geographisch zusammengehörigen Kolonien