46 J08 Henutsche Reich und seine einzelven Glieder. (Februar 22.)
Friedens. Das Werk der Pazifizierung Kretas, das die Mächte in vollem
Ernste unternommen haben, ist gestört und bedroht durch das völkerrechts-
widrige Vorgehen Griechenlands. (Sehr richtig!) Aus den Berichten, die
mir vorliegen, erhellt, daß das Landen regulärer griechischer Truppen auf
der Insel, weit entfernt, die Gemüter zu beruhigen, im Gegenteil eine in
jedem Augenblick wachsende Anarchie daselbst herbeigeführt hat. Die Fort-
dauer dieses Zustandes enthält an sich und vermöge der Rückwirkung auf
andere Völker eine schwere Gefährdung des Friedens. Diese Friedens-
gefährdung zu beseitigen mit den paratesten und wirksamsten Mitteln, er-
scheint als die nächste Aufgabe, damit wird gleichzeitig Raum geschaffen
werden zu einer definitiven, dauernden Ordnung der Dinge auf Kreta, zu
einer Befriedigung berechtigter Forderungen der christlichen Bevölkerung,
die sehr wohl möglich ist, ohne die Integrität des ottomanischen Reichs
anzutasten. Ueber die Mittel, welche zu ergreifen sind, um dieses gemeinsame
Ziel zu erreichen, schweben zur Zeit Verhandlungen unter den Mächten,
über die, wie gesagt, ich in diesem Augenblick keine näheren Mitteilungen
machen kann; dagegen bin ich von dem Herrn Reichskanzler beauftragt,
zu erklären, daß er, sobald die Zeit gekommen ist, gerne bereit ist, über
das, was von seiten Deutschlands in dieser Frage unternommen ist, dem
hohen Hause näher Aufschluß zu gewähren. Das ist die Sachlage. Man
appeliert in jüngster Zeit sehr häufig, und vielfach nicht ohne Erfolg, an
die christliche Humanität. Ich meine, angesichts dieser Thatsache ist viel-
leicht der Hinweis nützlich, daß wir den Forderungen einer richtig ver-
standenen Humanität am sichersten und im weitesten Umfange gerecht werden,
wenn wir alle Kräfte einsetzen, um der Gefahr eines Krieges vorzubeugen,
der nach menschlicher Wahrscheinlichkeit namenloses Elend über weite Landes-
strecken mit sich bringen würde. (Beifall.)
Abg. Lieber (83.) hält es nicht für angemessen, auf die kretische
Frage einzugehen. Das Zentrum wünsche den Schutz der Christen, aber es
könne in den Griechen gegenwärtig alles andere eher als berechtigte Ver-
treter der Christen erblicken, und es wird erwünscht sein, wenn es gelingt,
diesen kleinen Gernegroß auf Kreta zu Paaren zu treiben.
Abg. Richter (fr. Bp.) rügt, daß Deutschland, obwohl es keine
Sonderinteressen im Orient zu vertreten habe, gewissermaßen die diplomatische
Führung in der kretischen Angelegenheit genommen hätte. Der Blokade-
vorschlag Deutschlands habe ihn befremdet, und er sei der Ansicht, daß
unsere Diplomatie dabei gerade keinen Erfolg errungen hätte. Deutsch-
land habe angesichts des Rechtsbruchs Griechenlands gegen seine Gläubiger
kein Interesse an der Bergrößerung Griechenlands. Ein europäischer Krieg
müsse im Interesse der Humanität vermieden werden. Abg. Dr. v. Mar-
quardsen (nl.) spricht das Vertrauen seiner Partei zur orientalischen
Politik Deutschlands aus. Auf eine Bemerkung des Abg. Schmidt-War-
burg (3.) über die Befriedigung der Gläubiger Griechenlands erwidert
Staatssekretär v. Marschall: Der Herr Vorredner hat mit vollem Recht
darauf hingewiesen, daß die Frage der griechischen Gläubiger doch für
manche Leute eine recht ernste ist. Wir haben ungefähr 200 Millionen
von diesen griechischen Anleihen im Lande und ich habe mich leider über-
zeugt, daß ein großer Teil dieser Anleihen in den Händen von kleinen und
mittleren Leuten ist, und daß viele Leute ihre ganzen Ersparnisse in solchen
griechischen Anleihen angelegt haben. Wie das gekommen ist, ist eine Frage,
die ich jetzt nicht des näheren erörtern will. Der Herr Referent hat be-
reits ausgeführt, daß im vorigen Jahre Verhandlungen zwischen den eng-
lischen, französischen und deutschen Komitees einerseits und mit der griechi-
schen Regierung andererseits, d. h. mit dem griechischen Gesandten in Paris