Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechzehnter Jahrgang. 1900. (41)

162 Des Veutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 7. 10./13.) 
deten Regierungen sich über gesetzgeberische Anträge, die aus dem Reichstag 
hervorgehen, erst schlüssig zu machen pflegen, nachdem der Reichstag seiner- 
seits Stellung genommen hat, halten sie es im vorliegenden Falle doch für 
notwendig, zu einer so ernsten und das Gewissen des deutschen Volkes be- 
rührenden Frage sich alsbald auszusprechen. Die verbündeten Regierungen 
achten die Ueberzeugungen und Gefühle, die dem Antrag des Herrn Abg. 
Lieber und Genossen zugrunde liegen, sie sehen sich jedoch außer stande, 
diesem Antrag zuzustimmen, welcher die verfassungsmäßige Selbständigkeit 
der Bundesstaaten auf einem Gebiete beschränken will, das sie der Zuständig- 
keit ihrer Landesgesetzgebung vorbehalten müssen. Meine Herren, die aus 
älterer Zeit überkommene Gesetzgebung dieses oder jenes Bundesstaates mag 
Vorschriften enthalten, die mit den in dem größten Teil des Reiches an- 
erkannten Grundsätzen freier Religionsübung nicht überall in Einklang stehen. 
Wenn ich für meine Person hoffe, daß derartige landesgesetzliche Dispari- 
täten verschwinden werden — ich bin durchaus für Gleichberechtigung der 
Religionsgesellschaften —, so muß ich als Reichskanzler mir doch vor allem 
vor Augen halten, daß meine Aufgabe darin besteht, den bundesstaatlichen 
Charakter des Reiches und die Autonomie der Bundesglieder, soweit die 
Reichsgesetzgebung dieselbe gewährleistet, nicht ohne willige Zustimmung der 
Einzelstaaten beeinträchtigen zu lassen (Zustimmung rechts); darin wurzelt 
das Vertrauen, auf welches die Reichsverwaltung bei den Bundesstaaten 
zählen muß. Dieses Vertrauen ungemindert und ungeschmälert zu erhalten, 
ist meine vornehmste Pflicht. Ich bin überzeugt, daß das hohe Haus dieser 
meiner Auffassung beistimmen wird. (Beifall.) 
Der Antrag wird nach kurzer Debatte an eine Kommission verwiesen. 
7. Dezember. (Reichstag.) In der Budgetkommission er- 
klärt Reichskanzler Graf Bülow über die Indemnität (vgl. S. 149): 
Er suche die Indemnität nach und zwar sowohl für die Aufstellung 
der nach Ostasien entsandten, in der Reichsverfassung und in den Reichs- 
militärgesetzen nicht vorgesehenen Truppenkörper, als auch für alle durch die 
Chinaexpedition entstandenen und im Reichehaushalt nicht vorgesehenen 
Ausgaben. Es könne auch keinem Zweifel unterliegen, daß die nach China 
entsandten Truppenkörper, für die eine gesetzliche Basis nicht bestehe oder 
nicht Pihsien werde, aufzulösen seien, sobald ihre Mission in China er- 
üllt ist. 
10./13. Dezember. (Reichstag.) Beratung des Etats. Finanz- 
lage. Bülow über den Nichtempfang Krügers. Verhältnis zu Eng- 
land. 12000 Mark-Angelegenheit. 
Der Brutto-Etat des Reiches schließt in Einnahme und Ausgabe 
mit 2,240,947,301 & ab. Stellt man die Posten des vorjährigen Etats 
daneben, dann ergibt sich folgendes Bild: 
1901 gegen 1900 
Fortdauernde Ausgaben. 1,912,609,855 4 + 128,856,788 M. 
Einmalige Ausgaben im ordent- 
lichen Ettt 4224,582,751 „ + 27,560,217 „„ 
außerordentlichen Etat. . . 1036754,695 „ 1 17,886,284 „ 
Schatzsekretär Frhr. v. Thielmann führt aus, das Gesamtbild des 
Etats sei wesentlich unfreundlicher als früher, weil sich die ungünstige wirt- 
schaftliche Konjunktur bemerkbar mache. Abg. Sattler (nul.) billigt die 
Chinapolitik, tadelt aber die Teilnahmslosigkeit der Regierung den Buren 
gegenüber und die rücksichtslose Behandlung, die Präsident Krüger in Köln 
erfahren habe. Abg. Graf Limburg-Stirum (kons.) fordert sparsamere
	        
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