Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebzehnter Jahrgang. 1901. (42)

10 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 14./16.) 
Sattler (nl.) hält ein Abflauen der wirtschaftlichen Entwickelung für 
wahrscheinlich, wünscht aber dringend, daß der Kanal gebaut wird. 
Am folgenden Tage verlangt Abg. v. Zedlitz (frk.), daß mehr Ge- 
wicht auf den Ausbau des Eisenbahnnetzes als auf den der Wasserstraßen 
gelegt werde. Abg. v. Jazdzewski (Pole) tadelt die Polenpolitik. Die 
staatlichen Mittel für Schulzwecke kämen in Posen fast nur evangelischen 
Schulen zu gute. Die Regierung, die von einer polnischen Gefahr spreche, 
erzeuge künstlich Unruhe unter den Polen. Man tilgt die alten Namen, 
inhibiert Versammlungen, verbietet Theateraufführungen, man sucht die 
polnischen Besitzer von ihrer Scholle zu verdrängen! Man läßt die pol- 
nischen Unternehmer bei Vergebung öffentlicher Arbeiten nicht zu und 
verpachtet keine Ländereien an Polen! Vor Gericht und vor den Ver- 
waltungsbehörden kann sich der Pole nicht seiner Sprache bedienen! Und 
was die Schule angeht, ist sie ein Bildungsmittel? Nein, sie ist eine 
Folterkammer! Lebhafte Klagen haben wir wegen des Religionsunterrichts. 
Freiherr v. Zedlitz sowie Dr. Bosse haben es noch als Gewissenspflicht hin- 
gestellt, daß der Religionsunterricht in der Muttersprache erteilt werde. 
Nun kommt Herr Studt und ordnet den Religionsunterricht in deutscher, 
in fremder Sprache an. Das ist gegen die Verfassung! Ist es der Sitte 
des Volkes entsprechend, wenn man die Kinder zwangsweise in fremde 
Schulen führt? Das entspricht weder der religiösen Sitte, noch der Sitte 
des Volkes. Der Minister hat gegen den Artikel 25 der Verfassungsurkunde 
gefehlt, daß er die preußischen Behörden bei seinen Maßnahmen nicht be- 
fragt hat. Der Minister sollte einmal die Volksversammlungen besuchen, 
um zu sehen, wie entrüstet man über seine Maßnahmen ist. Wenn er sich 
nicht scheut, das Volk auf einem so zarten Gebiete, wie dem religiösen zu 
verletzen, dann muß er sich nicht wundern, wenn eine polnische Gefahr 
ersteht. In erster Linie mache ich für diese Verhältnisse die Behörden der 
Heimatsprovinz verantwortlich, dann erst das Ministerium. Wie hat dieses 
den Dispositionsfond verwendet? Niemals haben wir darüber eine Nach- 
weisung erhalten. Ich kann einiges darüber anführen. Es erhielten 
Stipendien in einer einzigen Stadt 30 Personen in Stellungen mit Ge- 
hältern von mehr wie 6000 Mark. Eine große Schuld an der Erregung 
des polnischen Volkes trägt auch der Ostmarkenverein. Das letzte Ziel ist 
die Protestantisierung der polnischen Bevölkerung. Evangelische Geistliche 
haben offen zu diesem Vorgehen aufgefordert. Man macht der polnischen 
Presse Vorwürfe über ihr scharfes Auftreten. Kann man sich darüber 
wundern? Die Politik der Nadelstiche ist bei uns auf der Tagesordnung. 
Daß ein Mann von den Verdiensten wie der Minister Dr. von Miquel zu 
solcher Politik Pate steht, thut mir in der Seele leid. Wir hoffen von 
dem Ministerpräsidenten, daß er Ruhe und Frieden in unsere Bevölkerung 
bringt, indem er das Programm ausführt, das er im Reichstage aussprach, 
daß er sich über die Parteien stellt und das Gemeinwohl über alles setzt. 
               Finanzminister v. Miquel: Wir haben zu böse Erfahrungen ge- 
macht mit einer milden Politik gegenüber den Polen. Die Politik, die in 
den dreißiger Jahren von Preußen verfolgt wurde und die zu dem Auf- 
stand führte, war die Politik, die der Vorredner wünscht. Die Regierung 
handelt mit ihrer jetzigen Politik in Uebereinstimmung von fast ganz 
Deutschland. (Widerspruch bei dem Zentrum und bei den Polen.) Die 
Polen haben alle Freiheitsrechte in vollem Besitz und Nießbrauch. In 
anderen Ländern verkehrt man ganz anders mit fremden Nationalitäten. 
Ich verweise auf die Behandlung der Italiener in Frankreich. Der Ton 
der polnischen Presse ist jetzt ein nahezu revolutionärer. Die Polen haben 
uns nie Dank gewußt für die große Kultur, die sie uns verdanken, wir