Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebzehnter Jahrgang. 1901. (42)

Helsien. (Juli 19.—November Mitte.) 261 
mußte zugestehen, daß es mit dem Stande der allgemeinen Volksbildung 
in Belgien recht traurig bestellt ist, da von den 7 Millionen Einwohnern 
des Landes zum mindestens 2 Millionen nicht einmal des Lesens und 
Schreibens kundig sind. Von den Stellungspflichtigen gehören in den 
Städten 10, in den Landgemeinden 30—40 Prozent zu den Analphabeten, 
und der Unterrichtsminister konnte nicht umhin, die bedauerliche Thatsache 
mitzuteilen, daß zur Zeit mehr als 120000 im schulpflichtigen Alter 
stehende Kinder gar keine Schule besuchen. Man sollte meinen, daß die 
Regierung nach der Feststellung eines derartigen traurigen Zustandes zu 
dem Schlusse kommen müßte, daß der allgemeine Schulzwang einzuführen 
sei. Aber zu einer solchen Logik will sie sich nicht entschließen. Der Unter- 
richtsminister berief sich vielmehr darauf, daß die allgemeine Volksbildung 
in Belgien doch gegenüber früheren Zeiten, wie z. B. gegenüber dem Jahre 
1850, Fortschritte gemacht hat. 
19. Juli. Die Regierung legt die Heeresreform vor. 
Für die Infanterie soll die Dienstzeit künftig nur 22 Monate statt 
der bisherigen vier Jahre, für die Kavallerie und Artillerie 30 Monate 
statt bisher fünf Jahre betragen. Eine Erhöhung des Kontingents (der 
jährlichen Rekruteneinstellung) findet nicht statt, so daß also thatsächlich 
eine bedeutende Herabsetzung des Präsenzstandes der Armee schon binnen 
Jahresfrist eintreten wird, die in jedem der drei folgenden Jahre noch 
wächst. Um diesen Ausfall zu decken, sollen außer dem Jahreskontingent 
von 13 300 Mann noch jährlich 1400 Freiwillige eingestellt werden — 
vorausgesetzt, daß dieselben sich finden. Das neue Gesetz, anstatt das Los- 
kaufswesen aufzuheben, trifft vielmehr besondere Maßnahmen, um den 
Loskauf zu fördern. Vor allem richtet es sein Augenmerk auf die Ein- 
stellung möglichst zahlreicher Freiwilligen, welchen außer dem Solde noch 
Prämien, Pensionen und Civilversorgung in Aussicht gestellt werden. Nur 
so weit die Angebote von Freiwilligen hinter dem Jahresbedarfe von 
13300 Mann zurückbleiben, bleibt das bisherige Losziehen in Kraft und 
für die vom Lose zum Dienst bestimmten bleibt, soweit dieselben es sich 
leisten können, dann der Rettungsanker des Loskaufs. Daß künftig jeder 
einigermaßen auf sich haltende, ordentliche junge Mann von diesem Los- 
kaufsrechte Gebrauch zu machen wünscht, versteht sich bei der in Aussicht 
stehenden Zusammensetzung der belgischen Armee von selbst. Man besorgt 
daher vielfach, daß vom nächstfolgenden Jahre ab alle bürgerlichen Elemente 
aus der belgischen Armee verschwinden und daß dieselbe zum guten Teile 
eine Umstürzler= und Abenteurer-Armee sein wird. („Köln. Volksztg.“) 
Ende September. (Lüttich.) Ein großer Ausstand der 
Bergarbeiter bricht gegen den Willen der Arbeiterführer aus. 
3. November. (Brüssel.) Prinzessin Albert, die Gemahlin 
des Thronfolgers, wird von einem Prinzen entbunden. 
Mitte November. Alkoholfrage in Belgien. 
Die „Allg. Ztg.“ berichtet auf Grund von Mitteilungen in belgischen 
Blättern: Das Königreich zählt zur Zeit nicht weniger als 175000 Kneipen 
und Schankstellen für Alkoholgetränke, 229 Brennereien und 2900 Braue- 
reien. In Norwegen kommt eine Kneipe auf 52000 Einwohner, in Ruß- 
land eine auf 991, in Oesterreich auf 220, in Preußen auf 180, in Belgien 
aber kommt eine Kneipe auf 26 Menschen. Brüssel allein zählt 4281 Cafés 
und Kneipen. Das belgische Volk hat in 20 Jahren von 1876 —1896 
etwa 2¼ Milliarden in Genever verausgabt. Diese Summe übertrifft 
  
  
  
  
  
  
 
	        
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