Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebzehnter Jahrgang. 1901. (42)

292 Griechenland. (November Ende.) 
polis“ hatten in einer Reihe von Artikeln eine neue Uebersetzung des 
Evangeliums in die Vulgärsprache empfohlen. Dieses Werk hat zum Ver- 
fasser einen Herrn Pallis, einen vermögenden Griechen, der in Liverpool 
lebt und dessen Bestreben es ist, dem Manne aus dem Volke die großen 
Schriftwerke des griechischen Altertums zu übermitteln. So hat Pallis die 
Ilias und andere Dichtwerke übertragen, so hat er neuerdings auch das 
Neue Testament in die Vulgärsprache übersetzt, ein Beginnen, das die laute 
Billigung der genannten Athener Zeitungen fand. Keine Billigung, son- 
dern lebhafte Verurteilung fand dagegen diese Evangeliumsübersetzung zu- 
nächst in den Kreisen der Geistlichkeit, dann unter der Mehrzahl der Ge- 
bildeten überhaupt. Die Geistlichkeit wandte sich mit Heftigkeit gegen die 
Uebersetzung eines Laien und gegen die Uebertragung in die Vulgärsprache, 
die sie nicht für „voll“ erachtet. Aus gleichen Gründen griffen die Ge- 
bildeten und die Studenten — die in Athen immer mitreden — in die 
Bewegung ein, die schließlich einen überaus ernsten Charakter annahm. 
In den Kreisen der Gebildeten, wo man sich gern in klassischen Phrasen 
ergeht und sich mit Vorliebe ein altgriechisches Mäntlein umhängt, wünscht 
man ein Ueberwuchern der Vulgärsprache nicht. Die Zeitungen sind dem- 
gemäß in einer künstlichen und gekünstelten Sprache geschrieben, die dem 
klassischen Griechisch angenähert ist, die der gemeine Mann aber nicht ver- 
steht. Obwohl aber auch die Gebildeten im gewöhnlichen Verkehr sich der 
Sprache des Volkes bedienen, stehen sie dennoch den Bestrebungen feindlich 
gegenüber, die dem gemeinen Manne die geistigen Schätze des Volkes in 
einer ihm wirklich lesbaren Uebertragung darbieten wollen.“ Geistliche 
und Studenten verlangen die Exkommunikation der Uebersetzer; die Stu- 
denten organisieren große Demonstrationen, bei einer solchen kommt es 
zum Zusammenstoß mit der Polizei, wobei sechs Studenten getötet werden 
(21. November). — Obwohl die Kammer dem Ministerium ihr Vertrauen 
ausspricht, tritt Ministerpräsident Theotokis zurück, um eine unpartelische 
Untersuchung der Unruhen zu ermöglichen. — Es wird ein neues Kabinett 
Zaimis gebildet.