Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebzehnter Jahrgang. 1901. (42)

60 H# Detsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 15.) 
zu oktroyieren haben) Was die Frage betrifft, wie lange unsere Truppen 
noch in Petschili bleiben werden, so hängt das zunächst ab von der Ge- 
staltung der Dinge in Petschili und in China selbst. Von der weiteren 
Entwickelung der politischen und militärischen Verhältnisse, von dem weiteren 
Verhalten der Chinesen und der Loyalität, mit der sie bestrebt sind, die 
von ihnen angenommenen Friedensbedingungen zu erfüllen, davon wird 
die Okkupation Petschilis abbängen. Wir werden uns auch nicht bloß durch 
Versprechungen hinhalten lassen, auch nicht durch die schönsten Worte Li- 
Hung-Tschangs. Es muß thatsächlich mit der Erfüllung der Friedens- 
bedingungen Ernst gemacht werden. Dahin gehört in erster Linie Garantie 
für die Zahlung der zu leistenden Entschädigung. Wenn wir diese Garantien 
erhalten, werden wir unsere Truppen aus Petschili zurückziehen. Ein 
Vergnügen ist es nicht, in Petschili zu bleiben. Die Okkupation ist aber 
eine Pflicht, der wir uns nicht entziehen können und dürfen, solange nicht 
von Seiten Chinas für die Erfüllung der Friedensbedingungen ernstliche 
Bürgschaften vorliegen. Liegen solche Bürgschaften vor, so werden wir 
Petschili verlassen mit dem aufrichtigen und lebhaften Wunsche, Petschili 
so lange wie möglich nicht wieder zu sehen. (Bewegung.) Wir werden 
die Interessen unserer Kaufleute und Missionäre wahrnehmen und uns 
nicht durch chinesische Winkelzüge und Hinziehereien zu einem vorzeitigen 
Verlassen Petschilis bewegen lassen. Das Oberkommando werden wir nicht 
einen Tag länger aufrecht erhalten, als dies der Notwendigkeit der Lage 
und den Münschen der Mächte entspricht. Solange aber diese beiden Vor- 
aussetzungen zutreffen, wird der Graf Waldersee, wie bis jetzt mit Sicher- 
heit und allgemein anerkanntem militärischem Takt sein Amt verwalten. 
Endlich möchte ich einige Worte hinzufügen über die gegenwärtige diplo- 
matische Lage. in China. Alle Mächte sind bestrebt, die Verhältnisse in 
China zu konsolidieren, und alle wünschen, den baldigen Abschluß der 
internationalen Verwickelung mit China herbeizuführen. Nichtsdestoweniger 
bestehen zwischen den Mächten viele in der Natur der Dinge begründete 
Divergenzen. Es gibt Mächte, deren Interessen an China wesentlich wirt- 
schaftlicher Natur sind und andere Mächte, die dort mehr politische Ziele 
verfolgen. Wir gehören nach meiner Auffassung in die erste Kategorie; 
deshalb auch haben wir am 16. Oktober v. J. das deutsch-englische Ab- 
kommen abgeschlossen. Unsere Tendenz ging dahin, einerseits die Integrität 
von China solange als möglich aufrecht zu erhalten, andererseits in China 
nur soweit uns zu engagieren, als es für unseren Handel geboten ist. Auf 
die Mandschurei bezieht sich das deutsch-englische Abkommen nicht. (Hört, 
hört!) Das geht schon aus dem Wortlaut des Abkommens hervor. Daß 
dieses Abkommen keinerlei geheime Vereinbarungen und Klauseln enthält, 
habe ich schon bei der ersten Lesung des Etats erklärt. Ich habe sofort 
das Abkommen in ertenso der Oeffentlichkeit übergeben. Heute kann ich 
hinzufügen, daß ich auch bei den Verhandlungen, die zum Abschluß dieses 
Abkommens führten, keinen Zweifel darüber gelassen habe, daß der Vertrag 
sich nicht auf die Mandschurei bezöge. An der Mandschurei haben wir 
gar kein nennenswertes Interesse. Deutsche Missionäre und Handelsleute 
sind in den Handelsplätzen der Mandschurei nur sporadisch anzutreffen. 
Was aus der Mandschurei wird, ja, ich wüßte nicht, was uns an und für 
sich gleichgiltiger sein wird. Auf der anderen Seite haben wir auch Interesse 
daran, daß China im gegenwärtigen Augenblick und so lange seine Verpflich- 
tungen gegenüber den Mächten nicht realisiert sind, sein Staatsvermögen 
nicht ungebührlich verringere. China ist der Schuldner der Mächte, dessen 
Schulden in recht erheblichem Grade aufgelaufen sind. Es ist in der Lage 
eines Schuldners, der mit seinen Gläubigern in Akkord gelangt ist. Und