Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtzehnter Jahrgang. 1902. (43)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 13.) 13 
zwischen Tschechen und Alttschechentum besteht, welches die Führung in 
national-polnischem Sinne übernommen hat. Polnische Aerzte, polnische 
Rechtsanwälte, polnische Bauunternehmer, Handwerker und Kaufleute wenden 
sich gegen die Bestrebungen des Ostmarkenvereins und haben sich unter 
rücksichtsloser Boykottierung deutscher Gewerbetreibender ihre Stellung ge- 
schaffen, durch Agitation, die sie in fanatischer, national-polnischer Weise 
betreiben. Sie erringen mit großer Zähigkeit sich eine feste gesellschaftliche 
und wirtschaftliche Stellung in ehemals polnischen Landesteilen und suchen 
jedes durch die Deutschen verlorene Terrain wiederzugewinnen. Wo im 
Osten nur Stellen für einen Rechtsanwalt oder Arzt frei werden, die von 
Deutschen besetzt gewesen sind, suchen sie sich festzusetzen. Wo ein städtisches 
oder ländliches Grundstück verkauft wird, stellt sich ein polnischer Käufer 
ein, Hand in Hand damit geht die Tätigkeit der polnischen Ansiedelungs- 
banken. Trotz der Tätigkeit der deutschen Ansiedelungskommission sind weit 
mehr Grundstücke aus deutschen Händen in die der Polen übergegangen, 
als aus polnischen in deutsche Hände. (Hört, hört!) Gegenüber dieser 
planmäßigen Agitation, der es nicht an den nötigen Mitteln fehlt und die 
die Wiederherstellung des national-polnischen Reiches wiederanstrebt, ist die 
deutsche Bevölkerung in den östlichen Provinzen in große Schwierigkeiten 
geraten, sich in ihrem Besitz zu erhalten. Die Urteile, die die Leiter unserer 
deutschen Verwaltungsbehörden darüber abgeben, bestätigen uns leider, daß 
der Deutsche vielfach in dem wirtschaftlichen und politischen Kampf nachgibt, 
das Feld räumt, um sich in einer rein deutschen Gegend eine neue Heimat 
zu suchen. Ich habe hier zwei Briefe liegen, von den Oberpräsidenten in 
Posen und Westpreußen, aus denen ich Ihnen mit Erlaubnis des Präsi- 
denten einiges vorlesen möchte. Unter dem 4. Januar teilt der Ober- 
präsident von Posen u. a. folgendes mit: Die Gesamtbevölkerung hat sich 
von 1890 bis 1900 um zirka 7¾ Proz. vermehrt. Der Zuwachs der pol- 
nischen Bevölkerung betrug 10½ Proz., während der der deutschen nur 
3¾ Proz., und nach Abzug der durch die Ansiedelungskommission heran- 
gezogenen Bauern nur 1¼¾ Proz. war. Dabei hat die Gesamtbevölkerung 
des preußischen Staates in derselben Zeit um etwas mehr als 15 Proz. 
zugenommen. Hand in Hand mit diesem überwiegenden Zuwachs der Polen 
in den preußisch redenden Landesteilen auf Kosten der deutschen Bevöl- 
kerung geht auch die Vermehrung des polnischen Besitzes. Der Verlust 
der Deutschen an Grundbesitz betrug in derselben Zeit 1752 Grundstücke 
mit einem Flächeninhalt von 159097 Hektar, also ungefähr 5 Quadrat- 
meilen. In der Stadt Posen ist während der letzten Jahre so viel mehr 
Grundbesitz von Deutschen auf Polen, als von Polen auf Deutsche über- 
gegangen, daß sich ein Wertverlust von 116000 Mk. herausstellt. Den 
Rückgang des deutschen Gewerbes, insbesondere des Mittelstandes in den 
Städten, beleuchtet noch besonders der Wechsel der Apotheken. Damals 
waren 98 Apotheken in deutschen, 27 in polnischen Händen. Jetzt sind 
nur noch 85 deutsch und 45 polnisch. Aehnlich ungünstig liegen die Ver- 
hältnisse für die deutschen Handwerker. Früher überwogen sie mit Aus- 
nahme vielleicht der Schuhmacher in den Städten durchaus. Jetzt mag 
der deutsche Handwerkerstand ziffernmäßig vielleicht dem polnischen noch 
die Wage halten, aber er hat keinen Nachwuchs mehr. Selbst in der 
Stadt Posen ist das Verhältnis deutscher Meister ungünstig. Die auf die 
Boykottierung der deutschen Geschäfte gerichteten Bestrebungen haben sich 
von Jahr zu Jahr verstärkt, und es ist kein Zweifel, daß die polnischen 
Führer es auf eine Bedrohung und völlige Zurückdrängung des deutschen 
Gewerbes daselbst abgetan haben. Der Natur der Sache nach lassen sich 
hiefür allerdings Zahlenbeweise schwer beibringen. In viel schlimmerer
	        
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