Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunzehnter Jahrgang. 1903. (44)

18 Jas Dentsthe Reiqh und seine einzeluen Slieder. (Januar 19./23.) 
wozu die Bourgeoisie nicht allzu geneigt ist. (Zuruf: Wie bei uns!) — 
Dieser Zwischenruf frappiert mich wirklich; es ist wörtlich dasselbe, was 
Se. Majestät der Kaiser an den Rand des Berichtes geschrieben hat. (Große 
Heiterkeit.) Ich werde mir erlauben, Ihnen nachher den Bericht zu über- 
geben; Sie werden daraus ersehen, daß an dieser Stelle Se. Majestät vor 
einem Jahre wörtlich an den Rand geschrieben hat: „Richtig, und das 
überall.“ Herr Millerand ist aber weit davon entfernt, die Staatsgewalt 
zu erschüttern. Meine Herren! Ich wünsche Ihnen einen Millerand. Die 
deutsche Arbeiterversicherung bildet bis jetzt ein zusammenhängendes Ganzes; 
anderswo hat man sich beschränkt, einzelne Zweige unserer sozialen Ver- 
sicherung zu realisieren. Ebenso unbestreitbar ist es, daß die soziale Gesetz- 
gebung mit allem, was sie Schönes und Gutes mit sich gebracht hat, 
zurückzuführen ist auf die gemeinsame Arbeit der deutschen Fürsten und 
des hohen Hauses. Was Sie betrifft, m. H., so haben Sie (zu den Soz.) 
ja gegen die Arbeitergesetze gestimmt (Lachen bei den Soz.), und auch das 
gleiche und allgemeine Wahlrecht, welches anzutasten nirgendwo irgend 
welche Tendenz besteht, ist Ihnen von der Monarchie gewährt und frei- 
willig gewährt worden. (Zurufe links. Glocke des Präsidenten.) Se. Majestät 
der Kaiser ist davon durchdrungen, daß es die Aufgabe des Staates ist, 
die schützende und stützende und helfende Hand über die wirtschaftlich 
Schwachen zu halten; auf solche Fürsorge hat nach seiner Ansicht jeder 
wirtschaftlich bedrängte Stand Anspruch (hörtl), nicht nur der Industrie- 
arbeiter, sondern auch der Landwirt! (Ahal bei den Soz.) Jawohl! Der 
Bauer ist auch ein Mensch, so zu sagen! (Heiterkeit.) Der Kaiser ist aber 
auch davon durchdrungen, daß die Monarchien, welche im Anfang des vorigen 
Jahrhunderts den Uebergang vom alten zum neuen Staatswesen gefunden, 
heute stark und einsichtig genug sind, um diejenigen Uebelstände und Miß- 
stände, welche neben vielen Lichtseiten die moderne Entwicklung der Dinge 
mit sich gebracht hat, die sie in allen vorgeschrittenen Ländern finden, zu 
mildern und so weit zu beseitigen, wie es möglich ist auf dieser unvoll- 
kommenen Erde. (Zustimmung.) Im Laufe des vorigen Jahrhunderts 
hat sich das deutsche Bürgertum, das intelligente gebildete Bürgertum der 
Unternehmer, zu Macht und Ansehen im Staat emporgerungen. Es ist 
die Ansicht Sr. Majestät und der verbündeten Regierungen, daß die Auf- 
gabe unseres Jahrhunderts ist der Ausbau der sozialen Gesetzgebung. 
Se. Majestät der Kaiser ist davon durchdrungen, daß der Arbeiter gleich- 
berechtigt sein soll mit den anderen Ständen und Klassen und daß diese 
Gleichberechtigung ihren gesetzgeberischen Ausdruck finden muß (Rufe links: 
Siehe Zuchthausvorlage! Glocke des Präsidenten), und wenn Arbeiter sich 
veranlaßt finden sollten zu Kundgebungen — ich spreche natürlich nicht 
von einer speziellen Kundgebung —, so haben in meinen Augen nur solche 
Kundgebungen einen Wert, die aus dem freien, unbeeinflußten Willen der 
Arbeiter hervorgehen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Solche 
Kundgebungen begrüße ich als ein Zeichen dafür, daß ein großer Teil der 
Arbeiter treu zu Kaiser und Reich steht, aber von Manifestationen, die 
durch äußeren Druck oder fremde Einwirkungen hervorgerufen werden, 
halte ich gar nichts. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. Rufe: 
Breslau! Glocke des Präsidenten.) Der Herr Abg. v. Vollmar hat ferner 
von bonapartistischen Tendenzen gesprochen. Mir ist kein einziger Fall 
bekannt, wo Se. Majestät der Kaiser sich in einen Widerspruch gesetzt hat 
mit den Bestimmungen der Reichsverfassung. Wenn sich aber der Kaiser 
im Rahmen der Reichsverfassung hält, so hat er nicht nur das Recht, 
sondern auch die Pflicht, die ihm durch die Verfassung übertragenen Be- 
fugnisse in ihrem vollen Umfange auszuüben. Was soll dieses ganze Ge- 
 
	        
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