Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunzehnter Jahrgang. 1903. (44)

Nebersicht der volitischen Entwichelung des Jahres 1908. 399 
Glaubenskrieg wurde jetzt natürlich mit der herkömmlichen orienta- 
lischen Barbarei geführt, und je länger je mehr gerieten die Em- 
pörer in Nachteil. Während dieses Schauspiels stieg die Erregung 
im Fürstentum mehr und mehr; man beschuldigte den Sultan, die 
Ausrottung der ganzen christlichen Bevölkerung Makedoniens anzu- 
streben; die Regierung setzte die Armee auf den Kriegsfuß und 
begann mit der Pforte gereizte Verhandlungen. Ein Krieg zwischen 
dem Sultan und seinen Vasallen hätte vermutlich auch Serbien, 
das sich ebenfalls um das Schicksal seiner makedonischen Stammes- 
genossen sorgte, zur Aktion getrieben, so daß die Gefahr eines 
großen Balkankrieges vor der Tür stand. Griechenland freilich 
stand auf Seiten der Pforte; der Gegensatz zwischen Bulgaren und 
Griechen in Makedonien rief in Athen energische Proteste gegen 
die bulgarischen Annexionsgelüste hervor, und griechische Freiwillige 
stellten sich dem Sultan zur Verfügung. 
Hier setzte wiederum die Aktion der Großmächte ein. Auf 
das gemeinsame Drängen Österreichs und Rußlands willigten Bul- 
garien und die Pforte zunächst in eine gleichzeitige Demobilifierung 
(Ende September). Die Pforte konnte sich dazu verstehen, weil 
inzwischen der Aufstand größtenteils niedergeschlagen war, und der 
Herbst den Operationen im Gebirge ein Ziel setzte. Mit diesem 
Erfolge nicht zufrieden, vereinbarten die beiden Kaisermächte in 
besonders feierlicher Form — auf einer Zusammenkunft der beiden 
Monarchen in Wien (Anfang Oktober) — noch einmal ein Reform- 
programm und empfahlen es in identischen Noten in Konstantinopel. 
Sie wiederholten im allgemeinen die Forderungen vom Februar, 
aber sie verlangten weiter, daß österreichisch-ungarische und russische 
Agenten die Durchführung der Reformen kontrollieren sollten und 
daß europäische Offiziere an die Spitze der Gendarmerie gestellt, 
würden. Die Pforte suchte diesmal das Programm abzulehnen, 
weil die Mitwirkung der fremden Beamten die Souveränität des 
Sultans schmälere. Vermutlich rechnete sie auf ostafiatische Ver- 
wicklungen, die Rußlands Aktionskraft lähmen würden, vielleicht 
schmeichelte sie sich auch, daß die übrigen europäischen Mächte an 
der einseitigen Kontrolle der Kaisermächte Anstoß nehmen und so 
ihr Begehren nicht unterstützen würden. Da indessen jede Spal-
	        
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