Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 19.) 9
Mitte des Landes vorgerückt worden. Weitere Operationen werden haupt-
sächlich die Wiederherstellung der zerstörten Bahn zum Zweck haben. Zu-
nächst gilt es, den Bedrohten Hilfe zu bringen. Dazu soll ein Bataillon
Marine-Infanterie dienen, das nächsten Donnerstag die Ausreise antritt.
Erwächst aus dem gleichzeitigen Aufstande der Bondelzwarts und der Herero
die zwingende Notwendigkeit der Entwaffnung der Eingeborenen, so wird
dazu eine Verstärkung der Schutztruppe notwendig, die jedoch nur vorüber-
gehend bis zur Pazifizierung des Landes durchgeführt wird. Die gefor-
derten Maßnahmen dienen zugunsten Südwestafrikas und unserer ganzen
Kolonialpolitik.
Der von der Regierung verlangte Nachtragsetat für 1903 (Löh-
nung, Ausrüstung, Pferdebeschaffung u. s. w.) ermächtigt den Reichskanzler
1496000 Mark auf dem Kreditwege flüssig zu machen. Der Ergänzungs-
etat für 1904 (zur Verstärkung der Schutztruppe) fordert 1325200 Mark.
Redner aller Parteien erklären sich für eine schleunige Erledigung
der Vorlage, da Hilfe dringend notwendig sei. Die meisten behalten sich
vor, auf die Ursachen des Aufstandes später einzugehen; Abg. Bebel (Soz.)
glaubt, daß die Weißen durch Verbreitung der Trunksucht und Mißachtung
des Eigentums der Hereros den Aufstand verschuldet hätten. — Die For-
derungen werden in erster und zweiter Lesung angenommen (Annahme in
dritter Beratung 20. Januar). Die Sozialdemokraten enthalten sich der
Abstimmung.
19. Januar. (Reichstag.) Interpellation über russische
Polizisten in Deutschland. Ausweisung fremder Anarchisten.
Die sozialdemokratische Partei interpelliert die Regierung, was ihr
über das Verhalten russischer Polizisten in Deutschland bekannt sei, und
warum in Königsberg i. Pr. wegen Beihilfe zum Hochverrat gegen Ruß-
land Reichsangehörige angeklagt wurden, ehe noch ein Strafantrag Ruß-
lands vorlag, und wie Rußland zur Stellung des Strafantrags veranlaßt
wurde. — Abg. Haase (Soz.): Die russische Regierung habe in Berlin
ein Polizeidepartement, das alle russischen Untertanen und sogar Reichs-
angehörige überwache, ja Postbeamte bestäche, um ihre Korrespondenz zu
erhalten und andere ungesetzlichen Handlungen beginge. Die Regierung
sei gegen Rußland überaus schwach; sie liefere Russen aus und eröffne gegen
Reichsangehörige, die russische Schriften in Empfang nehmen und weiter
befördern, wegen Geheimbündelei ein Verfahren und liefere die bei Haus-
suchungen gefundenen Sachen an Rußland aus. So sei es in Königsberg
geschehen. Wenn die deutsche Regierung behaupten wolle, die russischen
Polizisten bewachten nur gefährliche Anarchisten, so sei der Anarchismus
nur ein Vorwand. Anarchisten der Tat gebe es in Deutschland überhaupt
nicht. Die russischen Spitzel überwachten vielmehr in Deutschland jeden
Vertreter der russischen Intelligenz und sie respektierten dabei weder das
Hausrecht noch das Briefgeheimnis. Noch schlimmer als die Duldung
solcher unsauberen Elemente sei aber ihre Unterstützung durch deutsche
Polizeibehörden. Die russischen Studenten, die hier im Vertrauen auf die
deutsche Gastlichkeit studierten, würden von allen Behörden wie Verbrecher
behandelt. So seien fünfzehn Studenten als verdächtig ohne Beweise aus-
gewiesen worden; die russische Regierung habe dann eine Untersuchung
gegen sie eingeleitet, aber nichts finden können. Das sei eine Blamage
für Preußen. Wie russische so bespitzelten die russischen Agenten auch
deutsche Bürger. Die deutsche Regierung unterstütze sie, indem sie Reichs-
angehörigen, die innerhalb des Reichsgebiets russische Druckschriften in
Empfang nähmen, den Prozeß mache. Deutschlands Ehre als Kulturstaat