Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwanzigster Jahrgang. 1904. (45)

162 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 5./10.) 
griffen gegen Rußland ergehen, wie er es eben getan hat (Widerspruch bei 
den Sozialdemokraten), die in direktem Widerspruch stehen zu der neu- 
tralen Haltung, die das deutsche Volk gegenüber dem ostasiatischen Kriege 
einzunehmen hat. Von einer solchen revolutionären Einmischung in die 
inneren Verhältnisse anderer Länder wollen wir aber nichts wissen. Wir 
haben gar nicht das Recht, in die inneren russischen Verhältnisse hinein- 
zureden; die gehen uns gar nichts an, die gehen uns ebensowenig etwas 
an, wie die Russen unsere Verhältnisse etwas angehen. Wenn wir uns 
jede Einmischung des Auslandes auf das ernsteste verbitten (Lachen bei 
den Sozialdemokraten), so haben wir auch nicht das Recht, anderen die 
Fenster einzuwerfen. Sie wollen international sein? Sie gefährden die 
internationalen Beziehungen! Sie predigen gegen den Krieg und suchen 
ihn selbst herbeizuführen. Sie erklären, daß unsere ruhige und besonnene 
Politik eine phantastische wäre, die überall Händel sucht, und empfehlen 
uns eine Politik, die, wenn wir sie einschlagen würden, uns in Schwierig- 
keiten mit aller Welt verwickeln würde. Wenn übrigens Herr Bebel sich 
in dieser Weise gegen die russische Autokratie echauffiert, so spottet er seiner 
selbst und weiß nicht wie. (Beifall bei der Mehrheit, Lachen bei den Soz.) 
Die Art und Weise, wie der Herr Abgeordnete seine eigene Partei leitet, 
steht ungefähr auf der Höhe des Zustandes, der ihm in Rußland nicht 
gefällt, und die Organe in seiner Partei haben ungefähr den Grad der 
Freiheit, wie er ihm in Rußland nicht gefällt. Die Ordnung der Dinge, 
die er bei uns herbeiführen möchte, würde den russischen Despotismus in 
den Schatten stellen. Werden Sie erst selbst wirklich liberal, begreifen Sie 
erst selbst das Wesen wahrer Freiheit, bevor Sie unter Störung inter- 
nationaler Beziehungen uns Ihre Freiheit aufdrängen wollen! Nun ist 
der Abg. Bebel auf die Zwischenfälle eingegangen, die sich im vorigen 
Sommer durch die Aufbringung einiger deutscher Handelsschiffe und vor 
einigen Wochen durch die Beschießung des Geestemünder Dampfers „Sonn- 
tag“ ereignet haben. Sobald die ersten Nachrichten über die Zwischenfälle 
bei uns eingetroffen sind, haben wir sofort eingegriffen. Ich freue mich, 
sagen zu können, daß die russische Regierung unseren berechtigten Forde- 
rungen sogleich entgegengekommen ist. Sie wissen, daß die Fragen des 
Seerechts und des Völkerrechts, die dabei in Frage kommen, sehr strittiger, 
daß sie sehr verwickelter Natur sind. Um so ratsamer erschien es mir, in 
jedem einzelnen Falle diese Zwischenfälle auf diplomatischem Wege aus der 
Welt zu schaffen. Im sozialdemokratischen Lager zeigte es sich, daß man 
eine lebhafte Sehnsucht nach der gepanzerten Faust hatte (Heiterkeit), die 
Ihnen doch eigentlich sonst nicht sympathisch ist. Da wurde mir schon im 
Sommer — ich war noch in Norderney — geraten, ich möchte, ohne eine 
russische Erklärung abzuwarten, die deutsche Flotte nach Kronstadt schicken. 
Als der „Sonntag" beschossen wurde — ich konstatiere hier an der Hand 
der species facti, daß an Bord des „Sonntag“ niemand verletzt worden 
ist, daß der Dampfer selbst unbeschädigt geblieben ist, es war nur ein Tau 
zerbrochen, und der Schaden ist auf 3065 Mark berechnet worden, während 
der dortige Landrat eine Entschädigung von 1500 bis 2000 Mark berech- 
nete — da wurde in dem sozialdemokratischen Lager ganz fürchterlich ge- 
scholten. Herr Bebel sagte vorhin: „Ueber allen Wipfeln ist Ruh.“ Na, 
ich danke. (Große Heiterkeit.) Ich erinnere nur an die Auslassungen des 
Moniteurs der sozialdemokratischen Partei, an den „Vorwärts“, da hieß 
es, sobald die erste Nachricht über die Beschießung des Dampfers ein- 
getroffen war und ich noch nicht die Möglichkeit hatte, irgend welche Schritte 
zu unternehmen: die deutsche Regierung nimmt sich ungeheuer viel Zeit, 
um auch nur die Tatsachen festzustellen; wenn sie in gleichem Schnecken- 
  
 
	        
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