168 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 5./10.)
weiteres ihre Zustimmung erteilen, so ist das ebensowenig eine Rücksichts-
losigkeit, als wenn der Reichstag die Gesetzentwürfe der verbündeten Re-
gierungen nicht gleich oder gar nicht annimmt, was doch oft genug vor-
gekommen ist. Bebel sagt dann, wir seien nicht reich genug, um unsere
Rüstungen aufrecht zu erhalten. Diese Melodie ist erklungen, so lange es
eine deutsche Geschichte gibt. Sie hörte man schon auf dem Regensburger
Reichstag, auch zwischen 1860 und 1870. Was wäre aus uns geworden,
wenn der Standpunkt Bebels die Oberhand gewonnen hätte! (Sehr richtig!)
Gegen die Behauptung muß ich mich noch wenden, das deutsche Volk
mache unverhältnismäßige Ausgaben für militärische Zwecke. Nach einem
Aufsatz des Generals Pelet-Narbonne konstatiere ich, gibt Frankreich für
militärische Zwecke 35 Prozent, Rußland 25 Prozent, Italien 22 Prozent
und Deutschland nur 20 Prozent aus. Es kann also keine Rede davon
sein, daß wir nicht können. Es fragt sich nur, ob wir wollen. Sie wer-
en niemandem einreden können, daß ein Volk — das konstatiere ich hier
öffentlich! —, das jährlich 3 Milliarden für geistige Getränke ausgibt,
nicht im stande ist, 1200 Millionen als Versicherungsprämie für seine
Sicherheit aufzubringen. Sie haben gesagt, das französische Offizierkorps
stehe auf der Höhe des deutschen Offizierkorps. Ich widerspreche dem
durchaus nicht. Ich habe eine hohe Achtung vor dem französischen Offizier-
korps. Aber man muß auch in Betracht ziehen die Revanchegelüste, die
dort herrschen. Ich verweise auf das, was Jaures gesagt hat. Danach
werden Sie zugeben, daß auch wir das Recht haben, für unsere Sicherheit
zu sorgen. Sagen Sie nicht, daß wir die Mittel nicht aufbringen können,
denn das trifft nicht zu. (Lebhafter Beifall.)
Am 6. Dezember fordert Abg. Frhr. v. Richthofen (kons.) die Er-
schließung neuer Steuerquellen, da die Matrikularbeiträge nicht erhöht
werden dürften. Abg. Sattler (nl.) erklärt Diäten für dringend not-
wendig, um den Absentismus zu bekämpfen. Abg. Müller-Sagan (fr.
Vp.): Um den Reichsetat in Ordnung bringen zu können müsse man zu-
nächst mit den Aufwendungen für Südwestafrika reinen Tisch machen. Der
Vermehrung der Spezialwaffen stehe er sympathisch gegenüber, die Ver-
mehrung der kostspieligen Kavallerie scheine überflüssig. Am 9. Dezember
führt Abg. v. Vollmar (Soz.) aus, seine Partei habe die schlechte Finanz-
lage seit lange prophezeit. Daß bei neuen Steuern die Schwachen ge-
schont werden würden, glaube niemand mehr. Das einzige Rettungsmittel
sei eine Einkommen- und Erbschaftssteuer von Reichswegen. Die Militär-
vorlage finde keine Begründung in der politischen Lage; Frankreich könne
seine Rekrutenziffer nicht steigern, Rußland sei auf lange hinaus zu einem
Kriege unfähig. Dadurch seien auch die französischen Revanchegelüste ge-
dämpft. — Der Reichskanzler habe kein Recht, den Sozialdemokraten Vor-
haltungen über den guten Ton zu machen, da er selbst sie zu brüskieren
suche. Einem Teil des Hauses gefällt ja diese Art, aber in bezug auf die
bleibende Wirkung seiner Rede gibt er sich Täuschungen hin. Das deutsche
Volk wird ja später seine Antwort geben. Aber den Scharfmachern, den
Staatsstreichmännern ist doch nicht bloß mit Wortgefechten gedient, die wollen
Taten sehen (Sehr richtig!), daß der Sozialdemokratie an die Gurgel ge-
faßt wird. Der Reichskanzler weiß doch, daß diese Art des Vorgehens
gegen die Sozialdemokratie ein sehr gefährlicher Weg ist (Unruhe) und daß
er auf die Dauer außerordentlich wenig Erfolg verspricht. Die Zügel
werden ihm außerordentlich schnell entrissen werden, denn die Herren da
drüben (nach rechts) brauchen einen starken Mann mit wenig Hirn und
Nerven bis zum äußersten (Zuruf rechts), und das ist der Reichskanzler
nicht. Gegenüber einer so großen Bewegung wie der sozialdemokratischen