Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 5./10.) 169
sollte der Reichskanzler sich nicht an Aeußerlichkeiten, sondern an den
Kern halten. Aber wer jetzt, wo gewaltige Neuerungen sich vorbereiten,
nicht auf diesen Kern angeht, mag ein formgewandter Diplomat sein, ein
Staatsmann ist er nicht. — Die deutsche Politik lasse deutlich ihren Wunsch,
den Russen überall gefällig zu sein, durchblicken. Es solle die Emission
einer russischen Anleihe in Deutschland stattfinden, aber es wäre unverant-
wortlich, jetzt den deutschen Geldbesitzern zu raten, Rußland Geld zu borgen.
Der Königsberger Prozeß habe die russische Korruption offenbart und der
deutschen Justiz eine große Blamage zugezogen. Die deutsche Regierung
suche in Rußland eine Stütze gegen die Demokratie.
Reichskanzler Graf Bülow weist die Behauptung zurück, die Sozial-
demokratie brüskiert zu haben. Die Herausforderung sei stets von den
Sozialdemokraten ausgegangen, deren Angriffe einen unnachahmlichen Ton
anschlügen. Zum Beweise verliest er den Artikel der „Leipziger Volks-
zeitung" (s. S. 157). Herr v. Vollmar hat weiter gemeint, ich hätte kein
Verständnis für die Sozialdemokratie. Ich habe im Gegenteil die Vor-
gänge in der sozialdemokratischen Partei mit besonderer Aufmerksamkeit
verfolgt und mit ganz hervorragender Aufmerksamkeit die Haltung eines
so hervorragenden Politikers und Parlamentariers, wie es Herr von Voll-
mar ist und seine näheren Freunde. Vor zwei Jahren wurden ja in
manchen Kreisen manche Erwartungen an den Revisionismus geknüpft.
Wie der edle Posa im „Don Carlos“ vor den bösen König Philipp, so
trat damals der Revisionismus vor den Führer der Sozialdemokratie:
„Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire!“ (Heiterkeit.) Der aber dachte: „Sonder-
barer Schwärmer!“ (große Heiterkeit) und ließ durch seinen Freund Kautsky
erklären, in der sozialdemokratischen Partei sei sogar das Anzweifeln der
gerade herrschenden Meinung gefährlich und nicht erlaubt. (Lärm links.
Zuruf Bebels.) Wenn Sie erlauben, Herr Bebel, werde ich hinzusetzen, ich
habe es nicht wörtlich im Gedächtnis. Jedenfalls war damals die Hal-
tung des Herrn Abgeordneten Bebel eine solche, daß selbst ein angesehenes
französisches sozialdemokratisches Blatt, die Humanité, von dem intoleranten
Dogmatismus der deutschen Sozialdemokratie sprach. (Hört, hörtl rechts.)
Da duckte sich der Revisionismus, da überließ er die Führung den utopi-
stischen Politikern, da zog er sich zurück vor denjenigen, die das mit sel-
tenem Scharfsinn und mit seltener Denkkraft, mit ungewöhnlichen Kennt-
nissen und mit noch ungewöhnlicherer Dialektik konstruierte, aber durch die
geschichtliche Entwicklung der Dinge in seinen Fundamenten erschütterte
System von Marx für ein Dogma halten, so starr und so unanfechtbar
wie nur irgend ein asiatisches Dogma. Und als der Revisionismus sich
so zurückzog, sich so duckte, da schaltete er sich eben aus aus der Zahl der-
jenigen Faktoren, die Realpolitik treiben. Die Art und Weise, wie damals
der Revisionismus reagierte oder vielmehr nicht reagierte, konnte ein ge-
wisses Mitgefühl hervorrufen, und deshalb hat es keinen praktischen Wert,
wenn die Herren von jener Richtung sich mit einer Mäßigung, ich will
mit Herrn v. Vollmar sagen: mit einer relativen Mäßigung, aussprechen,
solange sie nicht imstande sind, sich zu emanzipieren von demjenigen Herrn,
den ich nicht beim Namen nennen will, den aber der Herr Abgeordnete
v. Vollmar vor zwei Jahren mit feinem Witz verglich mit dem Lord-
protektor Cromwell. (Sehr gut! Heiterkeit.) Solange Sie sich von diesen
Anschauungen nicht emanzipieren, so lange haben Ihre Anschauungen auch
nur einen akademischen Wert, und in der sozialdemokratischen Partei wird
ja das Akademische nicht allzu hoch bewertet. (Stürmische Heiterkeit.)
Das wissen wir seit dem Dresdner Parteitag. Nun hat sich der Abg.
v. Vollmar eingehend beschäftigt mit unserem Verhältnis zu Rußland und