10 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 19.)
stehe hier auf dem Spiel. — Staatssekretär Frhr. v. Richthofen: Dem
Reichskanzler ist bekannt, daß ein zur russischen Botschaft gehöriger russischer
Beamter damit betraut ist, das Tun und Treiben der russischen Anarchisten
in Deutschland zu beobachten und die russische Regierung fortlaufend zu
unterrichten. Dem Reichskanzler ist dagegen nichts bekannt, woraus her-
vorginge, daß der russische Beamte seine Tätigkeit auch auf Reichsangehörige
erstreckt. Dem Reichskanzler ist nicht bekannt, daß russische Beamte oder
Gehilfen in Deutschland Verbrechen verübten oder versuchten, andere Per-
sonen zu Verbrechen zu bestimmen. Die Beseitigung des bestehenden Zu-
standes scheint dem Reichskanzler nicht angezeigt zu sein, da es im Inter-
esse des Reiches liegt, wenn das Treiben fremder Anarchisten durch die
Organe ihres Heimatsstaates beobachtet wird. Die Königsberg betreffende
Frage gehört an sich zur Zuständigkeit der preußischen Justizverwaltung.
Für das Reich liegt zur Zeit keine Veranlassung vor, dieser Frage näher-
zutreten, weil schon deren Fassung in der Interpellation keine Verletzung
des Reichsgesetzes erkennen läßt, denn nach § 130 der Strafprozeßordnung
kann wegen Verdachts einer strafbaren Handlung, auch bevor ein Straf-
antrag gestellt ist, Haftbefehl erlassen und selbstverständlich also das Ver-
fahren eingeleitet werden. Nachdem im Königsberger Verfahren Haftbefehl
erlassen war, ist, der Vorschrift des § 130 entsprechend, die russische Re-
gierung auf Veranlassung der preußischen Justizverwaltung durch das Aus-
wärtige Amt von dem Erlaß des Haftbefehls in Kenntnis gesetzt worden.
Die preußische Regierung tut lediglich ihre Pflicht und wird sich durch
Zurufe einzelner Abgeordneter daran nicht hindern lassen. Die russische
Regierung stellte darauf durch ihren Botschafter auf Grund des § 102 und
103 des Strafgesetzbuches den Strafantrag. Dieser Strafantrag wurde vom
Auswärtigen Amte dem preußischen Justizminister übermittelt. Bei Aus-
weisungen würden die Anarchisten stets an ihre Heimatgrenze gebracht, weil
man fremden Staaten ihre Aufnahme nicht zumuten könne. Abg. Bebel (Soz.):
Bei allen Ausweisungen nach Rußland hin habe es sich nicht um Anarchisten
gehandelt. Deutschland habe vielmehr Leute ausgeliefert, die von Ruß-
land als Anarchisten angesehen und deportiert würden, ohne es zu sein.
Denn in Rußland würden Leute als gefährliche Anarchisten betrachtet, die
anderswo als konservativ und staatserhaltend gälten. Deutschland habe
sich so zum Stiefelputzer Väterchens erniedrigt. Abg. Schrader (fr. Vg.):
Die Dinge seien nicht genügend durch die Antwort des Staatssekretärs
aufgeklärt; der preußische Justizminister müsse hier auf die Angriffe gegen
die preußische Justiz antworten. Abg. Spahn (Z.) ist ebenfalls nicht be-
friedigt von der Antwort Richthofens, obwohl er die Anwesenheit eines
russischen Polizeibeamten in Deutschland billigt. Aber ein Stab russischer
Agenten dürfe nicht geduldet werden. Auch die angeblichen Vergehen der
russischen Beamten und ihre Ueberwachung deutscher Untertanen müsse unter-
sucht werden. Abg. Sattler (nl.) stimmt dem Vorredner zu, während
Abg. v. Normann (kons.) sich im Namen seiner Partei für durchaus be-
friedigt von der Antwort des Staatssekretärs erklärt.
19. Januar. (Preußisches Abgeordnetenhaus.) Präsi-
dentenwahl. Etatsrede Rheinbabens. Allgemeine wirtschaftliche Lage.
Das Haus wählt durch Zuruf die Abgg. v. Kröcher (kons.), Porsch (Z.),
Krause (nl.) zu Präsidenten.
Finanzminister Frhr. v. Rheinbaben legt den Etat vor. Er be-
rechnet die Einnahmen des Staates auf 2800805050 Mark, die Aus-
gaben im Ordinarium auf 2626260668 Mark, im Extraordinarium auf
174544382 Mark. Der Minister führt aus, die letzten Jahre zeigten eine