Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwanzigster Jahrgang. 1904. (45)

Das Deutsche Reich und seine einzeluen Glieder. (Januar 23./26.) 13 
politik, indem er die Gegenwart im Interesse der Zukunft belaste. Die 
Ausgaben für die Polenpolitik seien überflüssig, denn die Polen hätten 
den Vorteil davon. Die Absicht, die Totalisatorsteuer herabzusetzen, sei 
unmoralisch, überhaupt sei der Totalisator grundsätzlich zu verwerfen. In 
der Kanalfrage zeige die Regierung schwächliche Inkonsequenz: nachdem 
sie so oft die Notwendigkeit des Mittellandkanals betont habe, verzichte sie 
den Agrariern zuliebe darauf und begnüge sich mit dem verstümmelten 
Kanal bis Hannover. 
Ministerpräsident Graf Bülow weist den Vorwurf der Inkonsequenz 
zurück, für ihn seien in der Behandlung der wasserwirtschaftlichen Frage 
nur praktische Erwägungen maßgebend. Die Staatsregierung muß mit 
den tatsächlichen Verhältnissen rechnen. Schlesien und das Odergebiet waren 
im vergangenen Jahre der Schauplatz einer Hochwasserkatastrophe, so schwer, 
wie kaum je zuvor. Tatsache ist, daß dabei sogar Menschenleben verloren 
gegangen sind, und daß wiederholt große Summen aus Staatsmitteln zur 
Beseitigung und Verhütung von Schäden flüssig gemacht werden mußten. 
Die Tatsachen legen mir, dem preußischen Ministerpräsidenten, die Pflicht 
auf, den betroffenen Landesteilen unter die Arme zu greifen und Vor- 
kehrungen zu treffen gegen eine Wiederholung derartiger verhängnisvoller 
Ereignisse. Die Staatsregierung ist auch heute der Ansicht, daß eine das 
ganze Gebiet der Monarchie durchquerende Wasserstraße der wirtschaftlichen 
Entwickelung des Landes außerordentlich förderlich sein würde. Nach den 
Ereignissen des letzten Jahres glaubt die Staatsregierung aber, daß von 
allen wasserwirtschaftlichen Vorlagen die Herstellung wirksamer Schutz- 
maßregeln gegen die Hochwassergefahr an der Oder und der Spree die 
dringendste ist. Indem die Staatsregierung das Schutzbedürfnis des Ostens 
in die erste Linie stellt, hofft sie, daß das Haus die Wünsche des Westens 
so weit als notwendig anerkennen und ihnen aus Gründen ausgleichender 
Gerechtigkeit zustimmen wird. — Als konstitutioneller Minister müsse er 
mit den Wünschen der Mehrheit des Hauses rechnen. — Die preußische 
Polenpolitik würde von ihren Gegnern nicht so heftig bekämpft werden, 
wenn sie nutzlos wäre. Die polnische Agitation in Oberschlesien sei eine 
bewußt großpolnisch-antipreußische, gegen sie und die ähnliche Ziele ver- 
folgende sozialdemokratische müßten energische Maßregeln ergriffen werden; 
vor allem müsse das Deutschtum selbsttätig arbeiten. Abg. Bachem (Z.): 
Preußen sei reich, das Reich arm, deshalb müsse jetzt das Finanzinteresse 
des Reichs an die Spitze gestellt werden; Preußen habe bei seiner Finanz- 
lage kein dringendes Interesse an einer Reichsfinanzreform. Im Interesse 
der Konsumenten müsse der Finanzminister suchen, Einfluß auf die indu- 
striellen Syndikate zu bekommen. Die Annahme der verkleinerten Kanal- 
vorlage würde präjudizierend für den Ausbau des Mittellandkanals bis 
zur Elbe sein. Die Polenpolitik habe Fiasko gemacht, die sozialdemokra- 
tische Agitation in Oberschlesien sei durch sie hervorgerufen. Eine Reform 
des Landtagswahlrechts sei dringend nötig, aber hier müsse die Regierung 
vorangehen. Abg. Friedberg (nl.) billigt die Thesaurierungspolitik und 
wünscht Trennung der unsicheren Eisenbahneinnahmen von den übrigen 
Finanzen. Das Kommunalsteuergesetz müsse reformiert werden, da heute 
die Kommunen vom Staate vielfach ausgebeutet würden. 
Am 25. Januar wendet sich Abg. Frhr. v. Zedlitz (frk.) scharf 
gegen die Nationalliberalen, die in den letzten Wahlen die Konservativen 
bekämpft hätten und mit Hilfe der Kanalvorlage die konservativen Par- 
teien sprengen möchten. Eine Wahlreform sei verlangt worden, weil die 
Arbeiter nicht im Landtag vertreten seien. Aber die Sozialdemokratie sei 
nicht die Vertreterin der Arbeiter, daher sei es auch falsch, eine Wahl- 
  
 
	        
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