14 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 25./29.)
reform zu fordern, weil sie nicht im Landtage vertreten sei. Nur der
Teilung großer Wahlkreise unter geringer Vermehrung der Abgeordneten
könne er zustimmen. Minister des Innern Frhr. v. Hammerstein: Die
Regierung hat noch keinen Beschluß über die Wahlreform gefaßt. Die
Regierung wird niemals dafür zu haben sein, die Grundlage unseres Wahl-
gesetzes zu ändern. Man hat ja von linksliberaler Seite verlangt, daß
diese Grundlage durch ein anderes Wahlsystem ersetzt werden soll. Man
beruft sich dabei auf das Wort Bismarcks von dem elendesten aller Wahl-
systeme. Wie ich den Fürsten Bismarck kenne, würde er unter Umständen
von jedem anderen Wahlsystem das ebenso bemerkt haben. Ich kenne kein
anderes Wahlgesetz, das so genau den Ausdruck der öffentlichen Meinung
widergibt, wie unser Dreiklassenwahlsystem. Mit Aenderungen, die den
Verschiebungen in der Bevölkerung Rechnung tragen sollen, muß man
außerordentlich vorsichtig sein. Ich habe reiflich darüber nachgedacht, bin
aber nicht zu einem Resultat gekommen. Abg. Brömel (fr. Vg.): Wenn
der Ministerpräsident wirklich konstitutionell gesinnt sei, hätte er nach der
Ablehnung der Kanalvorlage zurücktreten oder das Haus auflösen müssen.
Abg. v. Jazdzewski (Pole): Die Polen würden nicht nach demselben
Rechte wie andere Staatsbürger behandelt; sie würden wegen ihrer An-
hänglichkeit an ihre Muttersprache verfolgt. Daher rühre die Agitation
unter den Polen, die durch das Verbot, in Versammlungen polnisch zu
sprechen, noch wachsen werde. Minister Frhr. v. Hammerstein: Die Polen-
frage wird erst dann zur Ruhe kommen, wenn wir keine Polen, sondern
nur noch polnisch sprechende Preußen haben. (Beifall rechts.) Durch die
ganze polnische Agitation gehe ein Haß gegen alles Deutsche und Preußische,
dem die Regierung entgegentreten müsse. So würde die Feier von Kaisers
Geburtstag verhöhnt. Welche Nation würde sich das gefallen lassen? Ich
meine, unsere Langmut ist noch viel zu groß. (Sehr richtig! rechts und
bei den Nationalliberalen.) Wir haben nicht zu verhandeln mit Gegnern,
die uns ebenbürtig sind, wir haben zu befehlen, und sie haben zu gehorchen.
Am 26. Januar polemisiert Abg. Sattler (nul.) gegen die ab-
sprechende Beurteilung des Liberalismus durch den Abg. v. Zedlitz. Ohne
die Nationalliberalen könne weder im Landtag noch im Reichstag nationale
Politik gemacht werden. Nachdem Abg. Porsch (3.) die nationalpolnische
Agitation in Oberschlesien verurteilt, aber den Gebrauch der Muttersprache
für den Religionsunterricht gefordert hat, kommt es zu lebhaften Debatten
zwischen Nationalliberalen und Konservativen über die Taktik bei den Land-
tagswahlen. — Hierauf wird der größte Teil des Etats an die Budget-
kommission verwiesen.
Die Presse bespricht namentlich die Aeußerung des Ministers
v. Hammerstein gegenüber den Polen. Das Wort „Sie haben zu ge-
horchen“ wird vielfach, auch von deutschen Zeitungen in Posen, als un-
konstitutionell und unpolitisch bezeichnet.
25.—29. Januar. (Bayern.) Krisis im Präsidium der
Abgeordnetenkammer.
Bei einer Debatte über die Beschlagnahme des satirischen Wochen-
blattes „Simplizissimus“ wegen seiner Angriffe gegen die katholische Geist-
lichkeit verliest Abg. Segitz (Soz.) den inkriminierten Artikel mit Erlaubnis
des amtierenden Vizepräsidenten v. Leistner (lib.). Abg. v. Daller (Z.) ver-
langt und erhält von dem Vizepräsidenten während dieser Rede das Wort
zur Geschäftsordnung und protestiert gegen die Verlesung eines konfis-
zierten Artikels. In der Geschäftsordnungsdebatte, die sich hierüber ent-
spinnt, übernimmt Präsident v. Orterer wieder den Vorsitz und untersagt