Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 3./4.)) 19
die Regierung mit der Reform einzusetzen, wie sie die Denkschrift vor-
schlägt. Die Regierung will die Grundlagen der Ersten Kammer unbedingt
erhalten, ist aber damit einverstanden, daß die Industrie darin eine bessere
Vertretung findet. Im Namen der Konservativen lehnt Abg. Opitz die
Regierungsvorschläge ab, da er von der Reform ein starkes Eindringen der
Sozialdemokraten in die Zweite Kammer befürchtet. Gegen die berufs-
ständische Wahl hat er auch Bedenken. Mit einer sehr vonsichtigen Reform
der Ersten Kammer nach den Regierungsgrundsätzen ist er einverstanden.
Abg. Schieck (nl.) fordert namens seiner Fraktion die verfassungsmäßige
Vertretung namentlich des Handels, der Industrie und der Gewerbe in
der Ersten Kammer, gleichwertig mit der Vertretung der Landwirtschaft,
und eine Reform der Zweiten Kammer durch eine bessere Vertretung der
dritten Klasse, aber auch Schutz gegen das Ueberwuchern der Sozialdemo-
kratie. Er hält das Pluralwahlsystem für besser als das berufsständische
und verlangt eine Reform der Ersten Kammer zu gunsten der Industrie.
3./4. Februar. (Reichstag.) Erste Beratung des Entwurfs
über Entschädigung für erlittene Untersuchungshaft.
Danach können Personen, die im Strafverfahren freigesprochen oder
durch Beschluß des Gerichts außer Verfolgung gesetzt sind, für erlittene
Untersuchungshaft Entschädigung aus der Staatskasse verlangen, wenn das
Verfahren ihre Unschuld ergeben oder dargetan hat, daß gegen sie ein be-
gründeter Verdacht nicht vorliegt. Außer dem Verhafteten haben die-
jenigen, denen gegenüber er kraft Gesetzes unterhaltspflichtig war, Anspruch
auf Entschädigung. Indessen ist ein solcher ausgeschlossen, wenn der Ver-
haftete die Untersuchungshaft vorsätzlich herbeigeführt oder durch grobe
Fahrlässigkeit verschuldet hat. Der Anspruch kann ausgeschlossen werden,
wenn das zur Untersuchung gezogene Verhalten des Verhafteten gegen die
guten Sitten verstoßen hat. Der Anspruch soll auch dann ausgeschlossen
werden können, wenn der Verhaftete entweder wegen Verbrechens oder
wiederholt wegen Vergehens oder Uebertretung des § 361 Nr. 3 bis 8 des
Strafgesetzbuchs (wegen Landstreichens, Bettelns, Müßiggang, Arbeitsscheu
u. s. w.) zu Freiheitsstrafe verurteilt worden ist und seit der Verbüßung
der letzten Strafe bis zur Verhaftung fünf Jahre verflossen sind. Gegen-
stand des dem Verhafteten zu leistenden Ersatzes ist der für ihn durch die
Untersuchungshaft entstandene Vermögensschaden. Unterhaltsberechtigten ist
insoweit Ersatz zu leisten, als ihnen durch die Verhaftung der Unterhalt
entzogen worden ist. Ueber die Verpflichtung der Staatskasse zur Ent-
schädigung wird von dem Gerichte gleichzeitig mit seinem den Verhafteten
freisprechenden Urteile durch besonderen Beschluß Bestimmung getroffen.
Er unterliegt nicht der Anfechtung durch Rechtsmittel. Auf Grund des
Beschlusses ist der Anspruch binnen drei Monaten durch Antrag bei der
zuständigen Staatsanwaltschaft geltend zu machen. Ueber ihn entscheidet
die oberste Landesjustizbehörde, und gegen diese Entscheidung ist die Be-
rufung auf den Rechtsweg zulässig. Diese Vorschriften sollen entsprechende
Anwendung finden, wenn der Verhaftete durch Beschluß des Gerichts außer
Verfolgung gesetzt wird. Die Entschädigung wird aus der Kasse des Bundes-
staats gezahlt, bei dessen Gerichte das Strafverfahren in erster Instanz
anhängig war. Im militärgerichtlichen Verfahren soll dies Gesetz ent-
sprechende Anwendung finden. An die Stelle der Staatskasse tritt im Heer
die Kasse desjenigen Kontingents, bei dessen Gericht das Strafverfahren in
erster Instanz anhängig war, in der Marine die Reichskasse.
Staatssekretär Nieberding: Nicht der Wille der Regierung, sondern
die Schwierigkeit der Materie habe eine frühere Vorlegung dieses Gesetzes
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