Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwanzigster Jahrgang. 1904. (45)

Rusland. (Oktober 1.—21.) 295 
Die russische Regierung hat in einer Verordnung vom 15. (a. St.) 
Februar d. J. Grundsätze veröffentlicht, die im jetzigen russisch-japanischen 
Kriege zur Anwendung gelangen sollen. In der Verordnung sind unter 
Nr. VI die Gegenstände aufgeführt, die als Kriegskonterbande betrachtet 
werden. Zunächst sind unter 1 bis 9 Waffen, Munition, Sprengstoffe, 
Kriegsausrüstungsgegenstände, Kriegsschiffe, Schiffsmaschinen, Brennstoffe, 
Eisenbahn-, Telegraphen- und Telephon-Anlagematerial als Kriegskonter- 
bande bezeichnet. Dann heißt es weiter unter Nr. 10: „Ueberhaupt alle 
Gegenstände, die für den Land= und Seekrieg bestimmt sind, sowie Reis, 
Lebensmittel, desgleichen Pferde, Saum-= und andere Tiere, die zu Kriegs- 
wecken dienen können, wenn sie für Rechnung des Feindes oder mit Be- 
immung für den Feind befördert werden.“ Dieser Grundsatz ist, wie ver- 
lautet, von der russischen Regierung neuerdings dahin interpretiert worden, 
daß die unter Nr. 10 begriffenen Gegenstände — ausgenommen Pferde, 
Saumtiere und Baumwolle, die stets als Kriegskonterbande angesehen 
werden — dann nicht der Beschlagnahme unterliegen sollen, wenn sie nach 
einem offenen japanischen Hafen an Privatpersonen, die nicht Agenten der 
japanischen Regierung sind, adressiert und nicht zu Kriegszwecken be- 
stimmt sind. 
1. Oktober. Die Bahn Orenburg-Taschkent wird für Arbeiter- 
züge eröffnet. 
Anfang Oktober. Diskussion über Rußlands Zukunft. Oua- 
litäten der Nation. 
Graf Tolstoi, ein Sohn Leos, führt aus, „die seelische und Ver- 
standeskraft“ der russischen Nation prädestiniere sie zur Herrin der Welt. 
Ihm tritt Menschikow in der „Now. Wreimja“ entgegen; er entwirft ein 
sehr trübes Bild von dem intellektuellen und moralischen Zustande der 
Nation: Ein bettelarmes, unwissendes, bis zur Gleichgültigkeit mit seinem 
Geschick verwildertes Volk, das nicht satt zu essen hat, in abscheulicher 
Weise zu viel trinkt, krank und dem Boden entfremdet ist — ist es an der 
Zeit, für ein solches Volk mit dem Grafen Tolstoi von der Weltherrschaft 
zu träumen? Kann es wenigstens seinen Platz unter der Sonne sich be- 
wahren? Das ist hier die Frage. 
10. Oktober. (Reval.) Der Zar besichtigt das zweite nach 
Ostasien bestimmte (bisher baltisches) Geschwader. 
15. Oktober. (Libau.) Das baltische Geschwader geht 
in See. 
21. Oktober. (Dorpat.) Den akademischen Korporationen 
wird das seit 1894 verbotene öffentliche Farbentragen wieder ge- 
stattet. 
Oktober. Rüstungen; Widerstand der Bevölkerung. 
Ein Ukas vom 22. Oktober befiehlt die Einberufung der Reservisten 
in den aktiven Dienst in 120 Kreisen der zu den Militärbezirken Warschau, 
Wilna, Kijew, Moskau und Odessa gehörenden Gouvernements an. — In 
vielen Bezirken kommt es bei der Einziehung zu blutigen Tumulten; die 
„Schlesische Volkszeitung“ berichtet: „Wenn auch die Polizei dahinter ist 
und das Volk beobachtet, so hört man doch unter vielen anderen Be- 
schimpfungen der russischen Regierung vielfach Rufe aus der Menge: „Gott 
segne Japan!“, „Es lebe Japan!, „Nieder mit dem Zarenl“. In Warschau 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.