Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 16.) 55
hat er gemeint, unsere Partei werde von der Regierung verhätschelt. (Hört!
hört!) Zur Begründung dieser kleinen Geschenke der Regierung ist er
philosophisch-historisch vorgegangen und hat gemeint, der moderne Staat
wurzle in der Weltanschauung des Protestantismus. Ich könnte das Gegen-
teil nachweisen. Ich fasse die Dinge viel praktischer auf. (Lachen links.
Sehr wahr! im Zentrum.) Wir fassen die Sache nicht philosophisch an,
sondern praktisch. Wie haben sich die Dinge z. B. in Preußen entwickelt?
Katholische Landesteile sind in den preußischen Staatsorganismus auf-
genommen worden. Nach den Grundsätzen dieses Staates haben wir die
Freiheit und das Recht, wie jede andere Konfession, nach den Grundsätzen
unseres Glaubens zu leben. Der konfessionelle Friede, den unser Vater-
land jetzt mehr braucht als jemals, basiert darauf, daß jede Konfession
nach Grundsätzen der Gerechtigkeit behandelt wird. Die Nichtkatholiken in
Preußen sind durch diese Entwickelung nicht geschädigt worden. Selbst im
Kulturkampf war sich auch Fürst Bismarck klar, daß das Endziel nicht
Kampf, sondern der Friede sein müsse. Auch Herr v. Sybel hat einmal
gehofft, kommen wieder friedliche Zeiten, dann können auch die staatlichen
Schranken wieder fallen. Fürst Bismarck hat sich nicht durch Geschenke
das Zentrum dienstbar gemacht, sondern er war Staatsmann genug, um
einzusehen, daß der Kampf nicht auf die Dauer bestehen könne, daß nicht
die Unterstützung der Katholiken zu verlangen sei, wenn sie fortgesetzt kon-
fessionell bekämpft werden. Man soll also nicht immer von den kleinen
Geschenken für das Zentrum sprechen. Ein Fehler war es, daß die kirchen-
politischen Gesetze diskretionäre Vollmachten enthielten, die nur für eine
so machtvolle Persönlichkeit wie Bismarck angemessen waren. Macht die
Regierung nun von den diskretionären Vollmachten einmal zu gunsten der
Katholiken Gebrauch, so heißt es gleich, diese würden bevorzugt. Ein
Fehler war es ferner, daß Fürst Bismarck noch einen kleinen Rest der
kirchenpolitischen Gesetze bestehen ließ. Soll jetzt ein solcher Rest beseitigt
werden, erhebt sich gleich wieder das Geschrei über unsere Bevorzugung.
Gerechtigkeit ist die Grundlage des Staates, wir verlangen nichts als
Gerechtigkeit, aber wir verlangen die volle Gerechtigkeit. (Beifall im Zen-
trum.) Bezüglich der Aufhebung des § 2 des Jesuitengesetzes hat sich Herr
Hackenberg auf die Civilta cattolica dahin bezogen, daß dieselbe als eine
Errungenschaft der katholischen Kirche angesehen werde. Ich kenne die
Civilta cattolica nicht. (Große Heiterkeit.) Den Antrag auf Aufhebung
des § 2 haben zuerst die Freisinnigen und dann die Konservativen gestellt,
es war also nicht ein Antrag des Zentrums, und ich verstehe deshalb die
angebliche Aufregung darüber nicht, daß der Bundesrat endlich den wieder-
holten Beschlüssen des Reichstags gefolgt ist. Selbst der Hannoversche
Courier hat Verständnis dafür gezeigt und die Meinung ausgesprochen,
daß die Stellung des Zentrums zum Zolltarif durch diese Frage nicht be-
einflußt werde und daran erinnert, daß selbst Herr v. Bennigsen vor Jahren
sich für die Aufhebung des § 2 erklärt habe. Auch Katholiken sollen über
die Aufhebung beunruhigt sein. Das müssen sonderbare Katholiken sein
oder sie wissen nicht, was im § 2 stand. (Sehr richtig! im Zentrum.)
Der § 2 wurde von den Katholiken als eine persönliche Kränkung ehren-
hafter Ordensleute aufgefaßt. Die Katholiken haben an allen vaterländi-
schen Arbeiten und Aufgaben mitgearbeitet. Das nennen Sie ein kleines
Geschenk, wenn eine Bestimmung aufgehoben, welche die Jesuiten schlechter
stellte als Vagabunden! Herr Hackenberg sagt, es solle keine konfessionelle
Kluft errichtet werden. Errichtet nicht gerade diese Bestimmung eine solche
Kluft? (Lebhafte Zustimmung im Zentrum.) Fürst Bismarck hat gesagt:
„Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt“, und hier