60 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 16.)
Autoritäten nicht gelten lassen will, den erinnere ich, wie auch schon von
anderer Seite geschehen ist, daß der erste Antrag auf Aufhebung aus-
gegangen ist von einem liberalen Mann, einem alten Fortschrittsmann,
von dem Abg. Rickert. Also in der Frage der Aufhebung des § 2 befinde
ich mich im Einklang nicht nur mit allen Parteien, ich befinde mich auch
im Einklang mit der großen Mehrheit des Reichstages. Ich befinde mich
insbesondere im Einklang auch mit der Mehrheit der nationalliberalen
Partei, und wenn man, wie Herr von Heydebrandt soeben von Schwäche
gesprochen hat, so kann es sich doch keinesfalls um Schwäche handeln gegen-
über einer Partei, sondern höchstens um ein freundliches Entgegenkommen
gegen den Beschluß, welchen mit Mehrheit der Reichstag angenommen hat,
und wenn hier irgendwie gesündigt worden wäre, so würden wir allzumal
Sünder sein, niemand würde ein Recht haben, sich zu salvieren und zu
sagen: Ich danke dir Gott, daß ich nicht bin wie der Herr Ministerpräsi-
dent. (Heiterkeit.) Ich möchte noch eins sagen: Es ist mir hier vorge-
worfen worden, daß ich die Aufregung nicht vorausgesehen hätte, welche
die Aufhebung des § 2 hervorrufen würde. Das ist ein Irrtum. Diesen
Sturm habe ich vorausgesehen; ich bin aber der Ansicht, daß der leitende
Minister sich nicht einrichten kann auf Beifall oder Mißfallen, Applaus
oder Zischen, daß er auch die Unpopularität nicht scheuen soll, sondern
lediglich das tun muß, was entspricht den ruhig und pflichtgemäß er-
wogenen Interessen des Landes. Endlich möchte ich darauf hinweisen, daß
sogar der engere Ausschuß für die Abwehrbewegung für Zulassung der
Jesuiten am 1. März 1895 den Bundesratsmitgliedern Abdrücke einer
Petition gegen die Zulassung der Jesuiten hat zugehen lassen, in der es
hieß: „Es liegt uns wenig daran, ob die Befugnis, einzelne Jesuiten als
Privatpersonen auszuschließen oder zu internieren, fortbesteht. Alles da-
gegen komme darauf an, daß die Ordenstätigkeit der Jesuiten nach wie
vor untersagt bleibt.“ Zu den Unterzeichnern dieser Petition gehören zahl-
reiche Personen, die jetzt noch eine Rolle spielen im Evangelischen Bunde.
Also auch in dieser Frage ist von Schwäche und Nachgiebigkeit nicht die
Rede. Ich frage aber, wo sind die Staatskühe, die ich habe wegtreiben
lassen? Es ist nichts geschehen, weder auf gesetzgeberischem noch auf per-
sonellem Gebiete, was den Vorwurf der Schwäche, der Abhängigkeit der
Regierung vom Ultramontanismus irgendwie berechtigt erscheinen lassen
könnte. Mit derselben Entschiedenheit, mit der ich bestreite, daß ich jemals
irgendwelche Konzessionen gemacht hätte, daß ich jemals irgendwelche Maß-
nahmen getroffen hätte, durch welche das Staatsinteresse verletzt werden
könnte, oder durch welche gerecht und billig denkende Protestanten sich ver-
letzt fühlen könnten, mit derselben Entschiedenheit betone ich gegenüber einer
verhüllten, aber klar erkennbaren Klage des Abg. Porsch, da unsere katho-
lischen Mitbürger allen Grund haben, sich der Rechte und Freiheiten zu
erfreuen, die sie bei uns genießen. Es gibt Punkte, über die wir uns mit
dem Zentrum nie ganz werden verständigen können. Sie haben Wünsche,
die wir nie erfüllen können, Sie erheben Beschwerden, die wir nie abstellen
können. Das liegt im Wesen der Dinge. Das Grenzgebiet zwischen Staat
und Kirche ist ein sehr heikles Gebiet, durch dessen Berührung leicht schwere
Beunruhigungen entstehen können. Wir müssen von beiden Seiten ver-
meiden, ohne Not an den modus vivendi zu rühren, den 1887 Fürst Bis-
marck im Verein mit Seiner Heiligkeit Papst Leo XIII. gefunden hat. Das
erkläre ich aber mit aller Bestimmtheit, daß tatsächlich die Handhabung der
Gesetze die katholische Bevölkerung befriedigen muß, und ich erkläre weiter
mit aller Bestimmtheit, daß die Staatsregierung von dem Wunsche erfüllt
ist, den Wünschen der katholischen Bevölkerung so weit Rechnung zu tragen,