62 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 16.)
beizulegen. Ich bin nicht der Ansicht, die einer der Rufer im Streit,
Superintendent Meyer in Zwickau, zum Ausdruck brachte. Wenn ich in
einer Rede von ihm gelesen habe, daß er die Beilegung des Kulturkampfes
den „schmählichen Kulturfrieden“ nennt, und eines der traurigsten Ereig-
nisse der deutschen Geschichte, trauriger fast als den Kanossagang Heinrichs IV.,
wenn ich solche Angriffe, welche gegen die Regierung gerade wegen der
Aufhebung des § 2 gerichtet werden, lese, so verstehe ich die Empfindungen,
mit denen Huß dem Weibe zusah, das Reisig zu seinem Scheiterhaufen
trug. Die große Mehrheit des deutschen Volkes will nach meiner Ueber-
zeugung nichts wissen von einem Kulturkampf, den die Fanatiker zu ent-
fachen immer bereit sein werden. Nicht die Regierung braucht so sehr den
Frieden, sondern das deutsche Volk. Das deutsche Volk soll mit kleinlichen,
gehässigen und elenden konfessionellen Zänkereien verschont bleiben von
beiden Seiten. Ich halte es weder für gut noch für patriotisch, die Gegen-
sätze, die ohnehin zwischen den bürgerlichen Parteien bestehen, noch zu ver-
schärfen durch eine übertriebene Betonung der konfessionellen Gegensätze.
Aus Gründen der inneren, wie der äußeren Politik, im Hinblick auf unsere
nationale Geschlossenheit nach außen, wie gegenüber der sozialdemokratischen
Gefahr nach innen wollen wir unnötigen Streit vermeiden und die kon-
fessionellen Gegensätze nach Möglichkeit in den Hintergrund drängen. Das
deutsche Volk ist schon so zerklüftet, daß wir, soweit es möglich ist, alles,
was uns trennt, aus dem Wege räumen müssen, auch wenn es nicht ohne
Opfer an der eigenen Rechthaberei abgeht. (Beifall.)
Am 17. März greift Abg. v. Eynern (nl.) die Regierung scharf an,
insbesondere den Reichskanzler, der mit Bebelscher Kampfweise einen schweren
moralischen Vorwurf gegen die nationalliberale Partei erhoben habe, ohne
ihn zu beweisen. Die nachgiebige Haltung gegen die Kurie werde das
Verhältnis zu Italien gefährden. Abg. Bachem (Z.): Die Besorgnis vor
einer Ueberschwemmung Deutschlands durch Jesuiten sei gegenstandslos.
In Deutschland hat der Jesuitenorden nur wenig mehr als 600 Mitglieder,
und diese sind zum größten Teil festgelegt in auswärtigen Missionen.
Einige werden gewiß zurückkommen, aber Hunderte werden niemals zurück-
kommen können, und s6 dürfen auch dann nicht mehr tun als jeder Staats-
bürger und Weltpriester.
Am 18. März wendet sich Ministerpräsident Graf Bülow gegen
Abg. v. Eynern und verweist darauf, daß viele nationalliberale Führer wie
Lasker, Marquardsen, Büsing, Bassermann die Aufhebung des § 2 ge-
wünscht hätten. Abg. Dr. Zwick (fr. Vp.) billigt die Aufhebung des § 2
als eines Ausnahmegesetzes, aber tadelt die Zulassung der Marianischen
Kongregationen als unpädagogisch. Andere als Turn- und Schwimm-
vereinigungen solle man an den Schulen nicht gestatten. Abg. Friedberg
(nl.) wirft dem Reichskanzler vor, durch sein Entgegenkommen gegen das
Zentrum sich die anderen Parteien entfremdet zu haben. Glaubt er dem
Zentrum nachgeben zu müssen, weil es eine große, ausschlaggebende Partei
ist, so möge er nicht vergessen, daß die im Hause vorhandenen nationalen
Parteien (Stürmischer Widerspruch und Oho, oho! im Zentrum) auch zur
Bildung einer Mehrheit notwendig sind, auch im Reichstage. Darum
möge der Reichskanzler dies Verhältnis nicht abwirtschaften, wie ein Land-
wirt ein ererbtes Gut, und über ihre Wünsche rücksichtslos zur Tages-
ordnung übergehen. Ministerpräsident Graf Bülow weist den Vorwurf,
sich vom Zentrum dirigieren zu lassen, ab. Die Königliche Staatsregie-
rung darf sich von keiner Partei regieren lassen, sie hat aber die Pflicht,
die Kräfte jeder Partei zu verwerten, jede staatserhaltende Partei nach
Möglichkeit zu verwerten für das Wohl des Ganzen, für die Gesamtheit.
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