Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwanzigster Jahrgang. 1904. (45)

74 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 28.) 
Bruch von Treu und Glauben herbeigeführt hätten, sollten geändert werden. 
Abg. Graf Kanitz (kons.): Es sei unerhört, daß einem Gesetze der Ge- 
horsam versagt sei, und daß die Regierung, anstatt die Ungehorsamen zur 
Unterwerfung zu zwingen, die angefochtenen Gesetzesbestimmungen beseitigen 
wolle. Treu und Glauben würden am besten durch Ausschluß unredlicher 
Elemente von der Börse erhalten. Die Novelle sei daher ein Rückschritt 
gegen das geltende Gesetz. — Am 27. erklärt Abg. Burlage (3.), das 
Börsenregister habe sich bewährt; das Bankgeschäft habe nicht gelitten, nur 
kleine Bankiers, die kleine Leute zum Spielen verleiteten, hätten das Ge- 
schäft einstellen müssen. Darum werde das Zentrum an den Beschränkungen 
des Gesetzes von 1896 nicht rütteln lassen. — Am folgenden Tage erklärt 
sich Abg. Kämpf (fr. Vp.) scharf gegen das Börsenregister, das gescheitert 
sei an der Verletzung des Rechtsbewußtseins der Bankwelt. Abg. Lucas (nl.): 
Das geltende Gesetz sei in manchen Punkten verbesserungsbedürftig, aber 
das Verbot des Getreideterminhandels müsse bestehen bleiben, denn es habe 
die Getreidepreise stabiler gemacht. — Am 29. April greift Abg. Graf 
Reventlow (wirtschaft. Vergg.) die Börse scharf an; Treu und Glauben 
seien dort Fremdworte; strenge Strafen müßten gegen jede Verletzung des 
geltenden Börsengesetzes festgesetzt werden. Handelsminister Möller weist 
diese Behauptungen scharf zurück. Abg. Bernstein (Soz.): Das geltende 
Börsengesetz richte sich nur gegen die Baissespekulation und gegen bestimmte 
Schichten in der Bevölkerung. Das staatliche Lotteriespiel sei viel demorali- 
sierender als das Börsenspiel. — Am 30. wird die Vorlage an eine Kom- 
mission verwiesen. 
28. April. (Karlsruhe.) Der Kaiser besucht nach seiner 
Rückkehr aus dem Mittelmeer (vgl. Italien) Karlsruhe und erwidert 
auf die Ansprache des Oberbürgermeisters: 
Mein lieber Herr Oberbürgermeister! Zunächst ist es Mir eine 
liebe Pflicht, für den freundlichen Empfang zu danken, der Mir hier zu- 
teil geworden ist. Ich hatte geglaubt, Meiner Pflicht nicht zu genügen, 
wenn Ich auf Meiner Rückreise hier nicht Einkehr gehalten hätte bei Meinen 
teuren Verwandten und um zugleich auch den Beweis Meiner vollständigen 
Heilung zu erbringen. Der freundliche Empfang der hiesigen Bevölkerung 
reiht sich würdig an die vielen schönen Empfänge, die Ich in Italien ge- 
funden habe. Ich habe dort jene schönen Küsten besucht, wo einst die 
Staufer weilten, deren Andenken noch heute hochgehalten wird. Manche 
an Mich gerichtete Ansprache und Depesche und manches Denkmal der Kunst 
ließ vor Meinen Augen die Zeit Friedrichs II. wieder erstehen. Sie haben 
richtig erwähnt, daß die Aufgabe des deutschen Volkes eine schwere ist. 
Denken wir an die große Zeit, die das deutsche Volk zusammenbrachte, an 
die Kämpe von Wörth, Weißenburg und Sedan, und denken wir an den 
Jubelruf, mit welchem der Großherzog von Baden den ersten Deutschen 
Kaiser begrüßte! Das wird in uns die Ueberzeugung festigen, daß Gott 
uns helfen wird, auch über den inneren Parteihader hinwegzukommen. 
Die Ereignisse, welche die Welt bewegen, sollten dazu führen, den inneren 
Zwiespalt vergessen zu machen. Ich hoffe, daß unser Friede nicht gestört 
wird und daß die Ereignisse, die wir vor unseren Augen sich abspielen 
sehen, dazu angetan sind, die Geister auf eine Linie zu lenken, das Auge 
klar zu machen und den Mut zu stählen und uns einig zu finden, wenn 
es notwendig werden sollte, in die Weltpolitik einzugreifen. 
28. April. Der Reichstag genehmigt einstimmig die Vor- 
lage über Krankenfürsorge für Seeleute.
	        
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