Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwanzigster Jahrgang. 1904. (45)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 13./16.) 81 
wenn er eine Niederlage Rußlands wünscht? Das ist eine Abweichung 
von der strikten loyalen Neutralität, die wir gegenüber dem ostasiatischen 
Kriege nach beiden Seiten einnehmen und die ich als verantwortlicher 
Minister nicht mitmachen kann. Der Abg. Bebel hat sich auch über die 
Lage in Südwestafrika verbreitet und hat zunächst die militärischen Opera- 
tionen kritisiert. Ich glaube, daß bei der gegenwärtigen Lage der Dinge 
in Südwestafrika eine solche Kritik mindestens nicht zeitgemäß ist. Wie 
wollen wir jetzt zu einem richtigen Urteil gelangen? Wenn überhaupt auf 
Grund von sicherem Material unseren Offizieren draußen ein Vorwurf 
wird gemacht werden können, so würde es höchstens der Vorwurf sein, daß 
sie ihre Person und ihr Leben zu rücksichtslos in die Schanze schlagen. 
(Sehr richtig!l) Das ist ein schöner Vorwurf, und ich muß sagen: in der 
Art, wie unsere Leute und Offiziere drüben in den Tod gegangen sind, 
und in dem hohen Prozentsag der gefallenen Offiziere liegt eine gründ- 
liche Widerlegung der Vorwürfe, die vielfach gegen unser Offizierkorps 
erhoben worden sind. Dann hat der Abg. Bebel die Truppensendungen 
nach Südwestafrika berührt. Man sagte, daß wir von vornherein mehr 
Truppen hätten nach Südwestafrika senden müssen. Dem gegenüber betone 
ich, daß ich von dem Tage an, wo die ersten Nachrichten über den Auf- 
stand in Südwestafrika eintrafen, die Verantwortung übernahm für alle 
Truppensendungen nach Südwestafrika, die aus militärischen Gründen 
irgendwie notwendig erschienen, und daß ich die dadurch entstehenden Kosten 
vor dem Hause vertreten werde. Sparsamkeit wäre geradezu ein Ver- 
brechen. Es sind genau so viel Truppen nach Südwestafrika geschickt 
worden, als von militärischer Seite als notwendig gefordert wurden. Was 
die Entsendung des Generals v. Trotha betrifft, so ist der Sachverhalt 
sehr einfach. Als sich herausstellte, daß größere Truppensendungen not- 
wendig waren, ergab sich die Notwendigkeit, daß die größere Truppenzahl 
mit einer größeren Anzahl von Stabsoffizieren als Kommandeur einen 
General erfordert; dann war die Erwägung maßgebend, daß der Leiter 
der militärischen Operationen nicht gleichzeitig Gouverneur sein konnte. 
Endlich hat der Abg. Bebel auch gemeint, daß in der Welt viel Neid und 
Haß gegen uns vorhanden ist. Ich bestreite das. Wenn es aber wirklich 
zuträfe, so würde es ein Grund mehr sein, unsere Rüstung so zu erhalten, 
daß wir allen Eventualitäten der Zukunft mit Ruhe entgegensehen können. 
Ein anderes Mittel, unberechtigten Haß zu entwaffnen, als dadurch, daß 
man sein Schwert scharf erhält, ist noch nicht gefunden worden. (Beifall.) 
„Nun ist mir vielfach vorgeworfen worden, daß ich zu viel Rück- 
sicht nähme auf parlamentarische Parteien, auf parlamentarische Mehr- 
heiten; es ist mir gesagt worden, ich möchte vorgehen, unbekümmert um 
Reichstag und Reichstagsmehrheit. Ich habe niemals gesagt oder auch 
nur gedacht, daß die Regierung sich grundsätzlich nach der parlamentarischen 
Mehrheit zu richten hätte. Ich weiß sehr wohl, daß wir kein parlamen- 
tarisches System haben und halte das für ein großes Glück. Ich glaube, 
daß ein solches System schwächend nach außen und spaltend im Innern 
wirken würde. Ein solches System ist bei uns auch tatsächlich unmöglich, 
weil keine der bestehenden Parteien die absolute Mehrheit hat, und nach 
unserer ganzen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und konfessionellen 
Struktur in absehbarer Zeit nicht haben wird. Daß ich mich nicht von 
parlamentarischen Mehrheiten tragen lasse, das glaube ich bewiesen zu haben 
während der Zolltarifaktion, ich glaube es auch bewiesen zu haben gegen- 
über dem südafrikanischen Kriege. Gewiß gibt es Fälle, wo eine pflicht- 
mäßige und patriotische Regierung ihren Willen durchsetzen muß gegenüber 
parlamentarischen Mehrheiten coûte que coûte, wo sie ihn durchsetzen muß, 
Europäischer Geschichtskalender. XLV. 6
	        
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