Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1907. (48)

Pie österreichisch-ungarische Monarcie. (Juni 25. 27.) 205 
Thronrede enthalte nach parlamentarischer Auffassung das Programm jener 
Regierung, die dafür verantwortlich sei. Er könne daher als ungarischer 
Ministerpräsident sich über die österreichische Thronrede nur insofern 
äußern, als er den Standpunkt Ungarns gegenüber dieser Thronrede dar- 
lege, Ungarns Standpunkt, betreffend den Ausgleich, der in der Throurede 
berührt worden sei, gehe dahin, daß Ungarn einen Ausgleich nur in 
Form eines Vertrages und ferner nur bis 1917 schließen werde. Für 
den Zeitpunkt jenseits 1917 werde Ungarn sich nur binden, indem es die 
tatsächliche Errichtung von Zollschranken vereinbare. Was die Armeefrage 
anbetresse, so erkenne das Kabinett die Notwendigkeit der Erhöhung des 
Präsenzstandes, jedoch nur in dem Maße der unvermeidlichen Notwendig- 
keit, an. Es müßten jedoch gewisse nationale Konzessionen geboten werden. 
Indem die Thronrede das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht beider 
Staaten betone, trotzdem in dem österreichischen Ausgleichsgesetz nichts davon 
enthalten sei, sei der Auffassung des ungarischen Staatsrechts Genüge ge- 
leistet. Ebenso sei eine Annäherung an den ungarischen Standpunkt darin 
zu erblicken, daß die Erhöhung des Rekrutenkontingents mit Beschränkung 
auf das unbedingt notwendige Maß angekündigt sei. Da die österreichische 
Thronrede weder die Rechte Ungarns berühre, noch dessen Standpunkt be- 
einflusse, erscheine jede weitere Bemerkung überflüssig. (Lebhafter Beifall.) 
25. Juni. Das österreichische Abgeordnetenhaus wählt 
solgendes Präsidium: Weißkirchner (Chr. Soz.), Zazek (Tsch.), 
Starczynski (Pole). 
27. Juni. (Cisleithanien.) Ministerpräsident v. Beck bringt 
im Abgeordnetenhause ein fünfmonatiges Budgetprovisorium ein 
und legt dabei sein Programm dar: 
Das Haus des allgemeinen Stimmrechts, in dem die arbeitenden 
Schichten zur vollen Mitwirkung herangezogen werden, müsse die wesent- 
lichste Funktion in einer positiven Arbeit sehen, durch die es dem Staate 
und den Völkern gebe, was ihnen schon lange vorenthalten geblieben: die 
ruhige, stetige und zielbewußte Fortentwicklung auf allen Gebieten des 
politischen und wirtschaftlichen Lebens. Der Ministerpräsident weist so- 
dann auf gewisse unzweifelhafte Vorteile hin, welche die Wahlreform 
gezeitigt habe, insbesondere darauf, daß der den staatlichen Lebensbedin- 
gungen widerstreitende Radikalismus bei den Wählern ein weit schwächeres 
Echo gefunden habe In unserer an sozialen Problemen so überreichen 
Zeit könne eine Politik der extremen Mittel und der extremen Ziele nicht 
ungestraft verfolgt werden. Redner konstatiert als das Urteil der Wähler, 
daß diese die Kontinuität des Volkslebens und den aufrechten Bestand des 
arlamentarismus, sowie die Austragung aller Gegensätze auf parlamen- 
tarischem Boden wünschen, nicht aber dessen Aufwühlung und Zerstörung. 
Der Ministerpräsident begrüßt die Bildung von großen taktischen Ein- 
heiten, welche zeigen, daß man die Lehren aus den Wahlen beherzige und 
gesonnen sei, zu fruchtbringender Arbeit zurückzukehren. Ein weiteres Ver- 
dienst der Wahlreform sei, daß die Sozialdemokraten aus dem Zwielicht 
der 5. Kurie in das helle Tageslicht der parlamentarischen Rechtsgleichheit 
gerückt seien. Redner sebe die Sozialdemokraten lieber im Hause als 
außerhalb des Hauses. (Heiterkeit.) Die Sozialdemokraten würden zu er- 
weisen haben, welche schöpferische Kraft ihren Ideen und welche Arbeits- 
genden ihren Vertretern innewohnen; wenn ihn auch eine weite Kluft 
von der Sozialdemokratie trenne, so werde doch die Regierung denu nicht
	        
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