Kußland. (Juni 14.) 323
Ministerpräsident Stolypin richtet an den Präsidenten der Reichs-
duma, Golowin, ein Schreiben, in welchem er bittet, die Reichsduma möge
möglichst bald über die Auslieferung der acht Abgeordneten beraten, die
wegen Verbrechen angeklagt sind, auf welche der Verlust der bürgerlichen
Ehrenrechte steht. Der Ministerpräsident weist auf die Erschwerung der
Untersuchung hin, die darin liege, daß die Duma bisher diese Angelegen-
heit nicht hat prüfen wollen, sowie darauf, daß mit geringer Mehrheit
gefaßte Beschlüsse bei einer Verurteilung der angeklagten Abgeordneten
für hinfällig erklärt werden könnten.
14. Juni. Die „Petersburger Telegraphenagentur“ teilt über
revolutionäre Verschwörungen mit:
Am 18. Mai erfuhr die Petersburger Polizei, daß die Wohnung
des Dumaabgeordneten Ohsol, wo die Sitzungen der sozialdemokratischen
Partei der Reichsduma stattfinden, auch von Mitgliedern der revolutionären
Militärorganisation besucht werde. Diese Nachricht, die später durch die
Verhaftung einiger Mitglieder der erwähnten revolutionären Organisation
bestätigt wurde, gab Veranlassung zu einer Haussuchung in der Wohnung
Ohsols. Bei dieser wurden zahlreiche Schriftstücke gefunden, die darauf
hinweisen, daß die 55 Dumaabgeordneten, welche die sozialdemokratische
Dumafraktion bilden, eine verbrecherische Vereinigung gebildet haben zum
Umsturz der durch die Grundgesetze festgestellten Regierungsform mittels
eines Volksaufstandes sowie zur Einführung einer demokratischen Republik.
Zur Erreichung dieser Ziele traf die Vereinigung folgende Maßnahmen:
Sie trat in direkte Verbindung mit einer geheimen verbrecherischen Ver-
einigung, welche sich Zentralkomitee der russischen sozialdemokratischen
Arbeiterpartei nennt, sowie mit dem Petersburger Komitee dieser Partei
und einer ganzen Reihe dem Zentralkomitee unterstellter Lokalkomitees.
Ferner ordnete sie ihre Organisation dem Zentralkomitee unter, leitet aber
selbst behufs Vorbereitung eines Volksaufstandes die Tätigkeit der an ver-
schiedenen Orten des Reiches entstandenen Geheimkomitees. Auch versandte
sie an die Geheimkomitees Zirkulare, in denen die Agitatoren beauftragt
werden, das Volk gegen die Regierung, den Adel, die Beamten und gegen
die Gutsbesitzer aufzuwiegeln. Weiter beauftragte sie die verbrecherischen
Geheimkomitees, die von ihnen aufgewiegelten Bauern, Arbeiter und
Soldaten zu geheimen Vereinen, Filialen und Gruppen zu vereinigen und
alle Gruppen wiederum zu dem Zwecke zu einigen, um die Unzufrieden-
heit und Erregung der ärmeren Volksklassen zur Inszenierung eines ge-
meinsamen Aufstandes des Militärs, der Bauern und der Arbeiter aus-
zunutzen. In einem an die Bauern gerichteten Aufruf forderte die Ver-
einigung diese auf, Vereine zu bilden und sich mit den Arbeitern in Ver-
bindung zu setzen, sich zum offenen Kampf mit der gesetzmäßigen Regierungs-
gewalt Rußlands, zur Ergreifung der Staatsgewalt und zur Uebergabe
derselben an die Volksvertretung bereit zu halten. Mit der geheimen
verbrecherischen Vereinigung, die als nächstes Ziel ihrer Tätigkeit die Vor-
bereitung eines Militäraufstandes betrachtet und sich Militärorganisation
der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei nennt, trat die Vereinigung
in direkte Verbindung. Eins ihrer Mitglieder, der Abgeordnete Gerus,
leitete am 12. April 1907 in Petersburg die Geheimversammlung einer
der Organisationen der erwähnten Vereinigung. Ferner nahm sie In-
struktionen von Angehörigen der Wilnaer und Petersburger Garnison
entgegen und empfing eine Abordnung der Petersburger Garnison, der sie
ihre Mithilfe versprach. Die erwähnte Vereinigung bildete das Zentrum,
in dem sich die revolutionären Forderungen der Lokalkomitees der geheim-
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