Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1907. (48)

Uebersicht über die politisce Entwickelung des Jahres 1907. 391 
getreten. Der Wechsel im Staatssekretariat des Auswärtigen wird 
mit der parlamentarischen Unzulänglichkeit des Staatssekretärs 
v. Tschirschky begründet. 
Für die Kolonialpolitik war das abgelaufene Jahr 
günstig. Wo nicht Kriegszustand herrschte, hat die Produktion 
zugenommen; insbesondere hat in Südwestafrika die Viehzucht 
Fortschritte gemacht und mit der Ausbeutung der Kupferminen in 
Otawi ist begonnen worden; in Togo haben sich die Baumwoll= 
pflanzungen, in Ostafrika die Sisal= und Kautschukkulturen vermehrt. 
Am Bau von Eisenbahnen wurde in allen Kolonien gearbeitet. 
Der Außenhandel der Kolonien betrug ohne Einrechnung der 
Regierungsgüter in Südwestafrika 121 3/1 Millionen Mark, was 
gegen das Vorjahr eine Zunahme um über 20 Millionen bedeutet. 
Aus den außerpreußischen Einzelstaaten ist für Bayern 
hervorzuheben, daß hier zum ersten Male ein Landtag nach dem 
neuen Wahlgesetz gewählt worden ist. Das Resultat hat die Zwei- 
drittelmehrheit des Zentrums, wenn auch knapp, bestätigt. Der 
scharfe Gegensatz zwischen Zentrum und Liberalen ist nicht ver- 
mindert worden, auch nicht durch die Aufnahme eines Liberalen 
ins Präsidium der Kammer. Im übrigen ist die Annahme des 
Wassergesetzes und der Wechsel im Ministerium des Innern zu 
verzeichnen. — In Sachsen und Hessen nahmen Wahlrechts- 
sorgen die Regierungen in Anspruch, aber ein Abschluß ist noch 
nicht gefunden. — In Braunschweig ist durch die Wahl des 
Herzogs Johann Albrecht von Mecklenburg zum Regenten das 
Interregnum beendet worden, nachdem die Ansprüche des Herzogs 
von Cumberland und seiner Söhne im Landtag und im Bundes- 
rat ausführlich erörtert worden sind. 
Von den Parteien sind die Blockparteien bereits besprochen 
worden. Das Zentrum ist aus der Wahßwlschlacht ungeschwächt 
zurückgekehrt, und wenn nach der Reichstagsauflösung hier und 
da die Meinung auftauchte, daß eine Spaltung zwischen den ge- 
mäßigten Elementen unter Führung Spahns und Hertlings und 
der radikalen unter Erzberger und Roeren eintreten werde, so 
wurde das durch die Praxis bald widerlegt. Gerade der Abg. 
Spahn griff in der Etatsberatung den Reichskanzler aufs schärfste
	        
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