Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1907. (48)

396 Uebersicht über die politische Entwichelung deo Jahres 1907. 
durch Obstruktion die Verabschiedung des Gesetzes, im Juli wurde 
daher der wesentlichste Inhalt auf dem Verordnungswege durch- 
geführt. Nun brach der Zwist vollends in hellen Flammen aus: 
die kroatischen Abgeordneten verließen den Reichstag und schlossen 
sich mit ihren bisherigen Gegnern, den Serben, zu aktiver und 
passiver Opposition in Kroatien im Landtag und auf der Straße 
zusammen; tätliche Angriffe auf einzelne magyarische Beamte, 
Boykotterklärung der ungarischen Industrie und ähnliche Mittel 
illustrierten die Schärfe des Kampfes. Ein Ende war beim 
Jahresschluß nicht abzusehen. 
Bei diesem allgemeinen Wirrwarr in Ungarn war es aus- 
geschlossen, daß die im Vorjahre versprochene Wahlreform ein- 
geführt werden konnte. Vielmehr suchen sie die herrschenden magy- 
arischen Kreise hinauszuschieben und das verheißene allgemeine 
Stimmrecht, falls es wirklich prinzipiell angenommen wird, mit 
solchen Kautelen zu umgeben, daß die künstlich geschaffene Herr- 
schaft der magyarischen Minorität erhalten bleibt. Die Nationali- 
täten, unterstützt von den Sozialdemokraten, fordern dagegen ein 
wirkliches allgemeines Wahlrecht, und dasselbe Interesse wie sie 
hat der König. Denn je länger je mehr arbeitet die magyarische 
Regierung, wie in früheren Jahrgängen dargetan ist, daran, den 
König völlig dem Parlament zu unterwerfen, die Gemeinsamkeit 
mit Österreich zu zerreißen und die reine Personalunion herbei- 
zuführen. König und Nationalitäten sind so auf einander an- 
gewiesen. Unter den magyarischen Politikern ist bereits hier und 
da der Gedanke durchgedrungen, daß es unmöglich ist, gegen König 
und Nationalitäten die augenblickliche Gewaltherrschaft dauernd 
zu behaupten; der Minister des Innern Graf Andrassy, die früheren 
Minister Fejervary und Cristoffy haben deshalb schon dafür 
plädiert, rechlzeitig den Nationalitäten Konzessionen zu machen, 
um die Führerschaft der Magyaren zu retten, aber gegen den Ein- 
fluß der magyarischen Heißsporne Kossuth und Apponyi haben 
sie noch nichts ausrichten können. 
So stand die österreichische Regierung viel fester als die 
ungarische, und dies Verhältnis kam auch in den Ausgleichs- 
verhandlungen zum Ausdruck. Der Ausgleich, nach langen Ver-
	        
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