Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

Das Peensche Reich und seine einteinen Glieder. (Januar 25./26.) 37 
Beseitigung mit allen Mitteln erstrebt werden muß. Wir haben schon 
1873 das Reichstagswahlrecht für Preußen verlangt und sind diesem Grund- 
satze treu geblieben. Dem Antrag auf Neueinteilung der Wahlkreise können 
wir uns nicht anschließen. Nicht nur die Größe der Bevölkerung, sondern 
auch die historische Entwickelung und die Größe der Landfläche spielt eine 
Rolle bei der Wahlkreiseinteilung. (Sehr richtig!) In Berlin wohnt 
ungefähr dieselbe Bevölkerungsmenge wie in Ostpreußen, im Königreich 
Württemberg, in Baden oder Elsaß-Lothringen. Aber es wird mir jeder 
zugeben, daß diese Landesteile für unser ganzes politisches Leben denn 
doch noch wichtiger sind als die Stadt Berlin. (Lebhafte Zustimmung.) 
Deshalb können wir nur dem ersten Teile des freisinnigen Antrags zu- 
stimmen. Den nationalliberalen Antrag lehnen wir ab, weil der erste 
Abschnitt zu allgemein, zu unbestimmt gehalten ist. 1906 ist uns von den 
Freisinnigen der Vorwurf gemacht worden, wenn es dem Zentrum ernstlich 
um ein neues Wahlrecht zu tun wäre, so hätte es wohl seinen großen 
Einfluß dafür mit Erfolg einsetzen können. Nun, jetzt haben Sie (zu den 
Freisinnigen) diesen Einfluß, welcher viel größer ist als der, den das 
Zentrum jemals gehabt hat. (Heiterkeit.) Sorgen Sie nun dafür, daß Sie 
das Wahlrecht bekommen, was Sie beanspruchen, und ich gratuliere Ihnen 
dazu. (Lebhafter Beifall und große Heiterkeit im Zentrum.) 
Frhr. v. Richthofen (kons.): Im vorigen Jahre gab Herr Malke- 
witz namens meiner Partei die Erklärung ab, daß sie an den bewährten 
Grundlagen des preußischen Wahlrechts festhalte. Sie werden kaum er- 
warten, daß sich die Haltung meiner Partei inzwischen wesentlich geändert 
hat. Gleichwohl hat mich meine Fraktion beauftragt, etwas ausführlicher 
auf die Anträge heute einzugehen, mit Rücksicht auf die inzwischen vor- 
genommenen Neuwahlen und deren Ergebnis, ferner aber auch deshalb, 
weil meine Freunde sich doch nicht dem Eindruck entziehen können, als habe 
sich gegenüber der uns im Vorjahre abgegebenen Erklärung die Haltung 
der Regierung ein wenig geändert. (Sehr richtigl) Im Januar v. Js. 
hat der Reichskanzler betont, es sei ein verhängnisvoller Irrtum, zu 
glauben, daß Demonstrationen einer irregeleiteten Masse einer pflicht- 
bewußten Regierung etwas abtrotzen können. Ich nehme dasselbe auch 
in Anspruch für ein pflichtbewußtes Parlament. Ich glaube nicht, daß wir 
Uuns durch irgendwelche krassen Demonstrationen werden beeinflussen lassen. 
(Sehr richtig!) Die Sozialdemokraten wollen das allgemeine, gleiche, ge- 
heime und direkte, proportionale Wahlrecht für alle Deutschen über zwanzig 
Jahre, ohne Unterschied des Geschlechts. Das klingt theoretisch ganz schön, 
und ich wollte, sie möchten einmal den praktischen Versuch machen im 
Lande Utopia oder auf einer noch unentdeckten Insel. Diäten und Reise- 
gelder würden wir Ihnen gern bewilligen. (Heiterkeit rechts.) Ein solches 
Wahlrecht ist in Preußen undurchführbar. Es würde wie der Kommunis- 
mus der Jakobiner zu einer Verarmung des ganzen Landes führen. Die 
Idee jenes Wahlrechtes, für die man in Süddeutschland den schönen Namen 
— nun weiß ich nicht wie er heißt — der oder das Proporz geprägt hat 
(Heiterkeit), ist für preußische Verhältnisse absolut nicht geeignet. Die So- 
zialdemokraten berufen sich bisweilen auf Frhr. v. Stein. Dazu haben 
sie kein Recht, denn Frhr. v. Stein hat gerade das geschaffen, was die 
Sozialdemokraten vernichten wollen, einen gesunden Bürgerstand durch die 
Städteordnung und einen gesunden Bauernstand durch seine Agrargesetz- 
gebung. Er hat überdies Gesichtspunkte aufgestellt für eine repräsentative 
Verfassung. Er sagte darin, daß das Wahlrecht nicht unabhängig sein 
dürfte vom Besitz. Ferner betont er — ich nehme hier alle Anwesenden 
aus, ich weiß nicht, ob Frhr. v. Stein das auch getan haben würde —,
	        
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