Italien. (Dezember 16.) 591
glaube, die Kammer darüber beruhigen zu können. Wahrheit ist, daß Italien
heute politisch, wirtschaftlich und moralisch eine stärkere Macht ist als früher.
Die eine Nation gelangt früher, die andere später zur Höhe ihrer Macht.
Ist diese aber erreicht, so nimmt sie von selbst den ihr zukommenden Platz
ein. Italien wird im Geiste der Versöhnung, der Klugheit und Mäßigung,
aber mit Ausdauer auf seinem ansteigenden Wege fortschreiten, bei dem
das Unternehmen in Libyen eine der wichtigsten und entscheidendsten Phasen
war, trotz der Preßpolemik und ihr vorausgehender Meinungsverschieden-
heiten. In den Einzelfragen sind die Beziehungen zwischen der italienischen
und der französischen Regierung ausgezeichnet, wie sie es während der
ganzen Balkankrise waren. Wenn in Fragen, die Italien mehr angehen
als Frankreich, zeitweilig Meinungsverschiedenheiten vorhanden waren, hat
die französische Regierung schließlich unseren Wünschen freundschaftlich und
freiwillig zugestimmt. Die beiden Regierungen sind ernstlich und gleich-
mäßig entschlossen, ihre Freundschaft auch in Zukunft unberührt zu erhalten
und alles mögliche zu tun, um ihre beiderseitigen Interessen zu versöhnen
und zwischen beiden Völkern immer mehr die Gefühle zu verbreiten, die
ihren intellektuellen Verwandtschaften entsprechen und sich allenthalben so
glänzend offenbarten. Die Erklärungen Kokowzows beweisen, daß der Pessi-
migmus Barzilais auch bezüglich Rußlands unbegründet ist. In Italien
ist die Erinnerung an die freundschaftliche Haltung Rußlands während des
italienisch-türkischen Krieges nicht erloschen. Unsere Beziehungen mit Eng-
land sollen nach Barzilai kühl geworden sein. Er täuscht sich. In den
dreieinhalb Jahren, in denen ich die Ehre hatte, unseren erhabenen Herr-
scher in London zu vertreten, habe ich dieses Land genügend kennen ge-
lernt, um Vertrauen zu haben in die unerschütterliche Freundschaft zwischen
Italien und England. Glücklicherweise sind schwer zu lösende Meinungs-
verschiedenheiten in wichtigen Fragen bisher nicht aufgetreten, wie dieses
auch der neueste englische Vorschlag bezüglich der albanischen Grenzen be-
weist. Andauernd freimütige und herzliche Besprechungen zwischen den
beiden Regierungen lassen hoffen, daß wichtige und bleibende Meinungs-
verschiedenheiten auch in Zukunft nicht eintreten werden. Mit der Art, wie
Sir Edward Grey den Vorsitz in der Botschafterkonferenz geführt hat, hat
er dem europäischen Frieden bemerkenswerte Dienste geleistet, die seinem
Namen einen Ehrenplatz in der Geschichte einer schwierigen internationalen
Krise sichern. Auch mit Bezug auf die Balkanvölker täuscht sich Barzilai.
Unsere Beziehungen mit der serbischen Regierung sind ausgezeichnet. Was
Montenegro anbelangt, so genügt der Hinweis darauf, daß der Minister
Plamenatz die Reise, die dem kleinen ruhmreichen Lande die Mittel zu
wirtschaftlicher Entwicklung verschaffen sollte, in Rom begonnen hat und
die erbetene Unterstützung ist ihm mit der größten Herzlichkeit gewährt
worden. Unsere Beziehungen mit Bulgarien sind vorzüglich, noch besser
als vor dem Kriege. Die mit Rumänien und der Türkei sind niemals so
intim und herzlich gewesen wie gegenwärtig. Einen sehr angenehmen Ein-
druck hat unter uns der Besuch des jungen Prinzen hinterlassen, der einst
die Schicksale der Schwesternation leiten wird, den Rom zur Verteidigung
der lateinischen Zivilisation an die Ufer der Donau entsendet hat. Italien
wird also die von Nation und Parlament wiederholt gebilligte Politik fort-
setzen. Keine Politik des Größenwahns oder des Imperialismus, aber eine
Politik der bewußten und vorausschauenden Aufrechterhaltung ihrer Landes-
interessen. Ausland und Inland müssen wissen, daß die Tage einer Politik
des Verzichts für Italien für immer vorbei sind und nicht wiederkommen
werden, aber Italien wird in den Tagen der Wohlfahrt und der Macht die
Versprechungen halten, die es Europa in den fernen Tagen des Kampfes und